Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
zu füllen, doch enden ihre Versuche mit bemerkenswerter Übereinstimmung im Scheitern. Unabhängig von ihren persönlichen Schicksalen in diesen Werken lassen die wortreichen Protagonisten oder ihre in weniger zentralen Figuren heraufbeschworenen Abbilder eine Reihe verwirrender, wenn nicht sogar verlogener verbaler Strukturen hinter sich.
Iwan Karamasow übernimmt wie der Mann aus dem Kellerloch, sein literarischer Vorläufer, eine von allen Formen freie Philosophieund legt gleichzeitig eine überwältigende Unfähigkeit an den Tag, sich positiv in die tatsächlichen menschlichen Situationen einzubringen, mit denen er konfrontiert wird. Nikolai Neljudow, Ippolit Kirillowitsch und Fetjukowitsch, die sprachbegabten Juristen in Die Brüder Karamasow , konstruieren eine Theorie zur Ermordung von Fjodor Karamasow, die logisch und künstlerisch bestechend, aber total falsch ist. In ähnlicher Weise führt die Weigerung, wesentliche Informationen zu erfassen, in Der Fremde zur ironischen Verzerrung der Argumentation des Untersuchungsrichters und des Staatsanwalts in der Konfrontation mit der unstrukturierten, nicht kognitiven und sinnlichen Realität Meursaults. Noch unverhohlener warnt uns der Anwalt Jean-Baptiste Clamence, Camus’ dostojewskischster Protagonist, nichts von dem zu glauben, was er sagt. Seine Ausbildung und seine Neigung lassen ihn Sprache und Form zur Täuschung seiner Zuhörer und seiner selbst verwenden. Und Melvilles Kapitän Vere, der als eine Art Staatsanwalt agiert, übernimmt, was er als »Form, Maß und Form« des Rechts ausgibt, und lässt sich zu einer Reihe von juristischen und moralischen Irrtümern hinreißen, die er seinen eingeschüchterten Zuhörern nur aufgrund seiner Redegewandtheit verbergen kann.
Doch fast alle diese Figuren haben Bewunderer bei denen gefunden, die sich mit ihren Dilemmata beschäftigen. Auch der sorgfältigste Leser, der ihre literarischen Sensibilitäten teilt, übersieht manchmal die negative Grundeinstellung dieser Figuren oder hat die Tendenz, sie zu entschuldigen, wenn er sie erkennt. Der Leser kann bei solchen Figuren sogar dasselbe narrative Faible gutheißen, das für ihn die Lektüre selbst attraktiv macht; sicher kann ein redegewandter Sprecher fast immer damit rechnen, mit Sympathie statt mit harscher Kritik aufgenommen zu werden.
Die Fähigkeit zu gutem Sprechen und Schreiben ist beim wortreichen Protagonisten freilich häufig mit einer Tendenz zur Selbstbespiegelung gepaart. Die exzessive Wahrnehmung der Funktionsweise seines eigenen kognitiven Apparats wiederum rührt von einem generalisierten Drang her, alle Phänomene zu überanalysieren, so dass in der Regel die für eine akkurate Erfassung von Handlungen erforderlichen Grenzen überschritten werden. In allen hier behandelten repräsentativen Texten gerät der von mir so genannte »Hang zum Juristischen« des Formulierungskünstlers in Konflikt mit der sich um ihn entwickelnden Realität, und er scheitert daran,mit dieser Realität ehrlich umzugehen. Würde es sich lediglich um ein persönliches Scheitern handeln, könnte es einem letztlich positiven Urteil über den Wortreichtum kaum etwas anhaben. Zum Beispiel fügt Lambert Strether, die einzige Figur in Die Gesandten , die die Komplexität von Sprache an die Stelle des Verständnisses im Wesentlichen einfacher Sachverhalte setzt, niemandem Schaden zu außer sich selbst und stellt sogar eine Bereicherung für viele aus seiner Umgebung dar. Aber im Gegensatz zu Henry James’ Version narrativer Vorstellungskraft sieht und betont der literarische Mainstream die harten Konsequenzen des Scheiterns des wortgewandten Protagonisten für die Gemeinschaft. Derartige Romane sind so aufgebaut, dass weitschweifige Figuren erhebliche Machtpositionen über ihre im Wesentlichen sprachlich nicht sonderlich bewanderten Gegenüber erringen. Letztere sind implizit Vertreter einer Reihe positiver Qualitäten, die für den Formulierungskünstler unerreichbar sind und in ihm oft unterdrückte Bitterkeit erzeugen; diese findet dann ihren Ausdruck anhand des indirekten Mediums einer signifikanten Erzählstruktur.
Juristische Verfahren oder philosophische Formulierungen kommen dem Drang des Formulierungskünstlers entgegen, eine Erzählstruktur um oder gegen den spontanen Ablauf der Realität aufzubauen und gleichzeitig Rache an den positiven Figuren zu nehmen, die sich für eine nicht verbale Teilnahme an der herrlichen Formlosigkeit des Lebens entschieden haben.
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