Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
einflussreicher Werke wie dieser mit ihren festgestellten Ähnlichkeiten wahrscheinlich im Zentrum romanhafter Bedeutung unserer Zeit liegt.
Selbstkritik, die bis dahin üblicherweise auf private Kommunikation beschränkt war, wird im modernen Roman zu einer öffentlichen Angelegenheit. Es ist, als ob sich die großen Autoren in diesen unruhigen Zeiten der westlichen Kultur (die hier betrachteten Werke reichen über ein blutrünstiges, zerrissenes Jahrhundert von 1862 bis 1956) stillschweigend geeinigt hätten, dass die in der Literatur behandelte Mitschuld der narrativen Institutionen zum Trend gesellschaftlich akzeptierter Gewalt und Ungerechtigkeit nur durch das machtvolle Medium dieser Einrichtungen selbst entlarvt werden konnte. Auf Recht, Philosophie, Geschichte, Theologie – die sich verschworen hatten, die Vorherrschaft von Erzählstrukturen über das tatsächliche Handeln von Personen zu unterstützen – konnte man nicht rechnen, um eine selbstzerstörerische Dialektik zu propagieren.
Joseph Haennigs juristische Abhandlung von 1943, die mit der Absicht geschrieben worden war, das französische Recht und Vichy dank der Übernahme der Auslegung der antisemitischen Rassengesetze durch die Nazi-Gerichte »humaner« zu machen, lässt uns sprachlos. Doch hätte dieser Text, der von einem wortgewandten und durchaus nicht schlechten Menschen stammte, die noch begabteren Wortschmiede nicht überrascht, deren Werke hier betrachtet werden. Sie wussten, dass die spirituellen Grundlagen der westlichen Kultur seit Jahrhunderten am Verrotten waren. Ihre größten Romanfiguren, Intellektuelle und Juristen, sind auch ihre verklemmtesten und gewalttätigsten.
Anders als manche der wortreichen Nihilisten, deren Formulierungen ihre Geschichten füllen, führen diese Autoren ihre Leser jedoch zur Perspektive eines positiven Existenzmodells. Aus der Asche der juristischen Weitschweifigkeit erhebt sich in diesen Werken der Gerechte, manchmal freilich in Form eines strukturellen Umkehrschlusses. Diese mit einer scharfen Intelligenz ausgestattete Figur verbindet Handlung mit Vernunft, eine sich selbst auferlegte Haltung, die ebenfalls unsere Aufmerksamkeit verdient.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Figuren mit Rechtsberührung bereits in erheblicher Zahl in Romanen aufgetreten. Cooper, Scott und Hawthorne ließen kaum eine Gelegenheit aus, einen Anwalt, einen Gerichtsauftritt oder ein juristisches Plot zu schaffen. Balzacs Comédie humaine liest sich wie eine französische Version von Martindale-Hubbell. Und die Juristen bei Dickens schlugen ihr Publikum in ihren Bann und flößten ihnen abwechselnd Heiterkeit und Furcht ein. Der Prototyp des Genres knapp vor unserem Betrachtungszeitraum ist Mr. Jaggers (in Große Erwartungen ), der das Leben aller wichtigeren Figuren des Buchs kontrolliert.
Aber die echte Blütezeit des Protagonisten als Jurist fand erst Generationen nach diesen großen Romanciers statt. Die europäische Kultur machte eine Phase der Reflexion durch. Kapitalismus, Industrialisierung und in ihren Diensten das Recht boomten und wurden komplexer. Der mimetische Autor trat einen Schritt zurück und bemerkte plötzlich, dass er ganz von Recht und juristischer Argumentation umgeben war. Die althergebrachten absoluten Werte der christlichen Religion und andererseits das individuelle Heldentum zogen sich von seinem Horizont zurück. Napoleon war verschwunden, doch seine Gesetzbücher lebten weiter und fanden große Verbreitung. Die ekklesiastische Tradition wich säkularer Legalität. Orientierungshilfen suchte man nun beim Anwalt, nicht mehr beim Priester. Juristen oder Intellektuelle, die für Interaktion und Entscheidungsfindung anwaltsähnliche Denkmodelle anwendeten, wurden für die Schicksale zentraler Figuren mehr als Katalysatoren. Sie wurden zu den »Helden« der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Die Figuren in diesen Werken wurden anders. Dasselbe gilt für die Plots. Immer häufiger verfolgen ganze Romane das Paradigma empfundener Kränkung, vereitelter Rache und fehlgeleiteter Gewalt. Protagonisten antworten nicht mehr einfach und direkt auf wirkliche oder eingebildete Ungerechtigkeiten. Ihr bohrendes Gefühl der Sinnlosigkeit führt sie dazu, aus Unschuldigen die Zielscheibe ihrer manchmal kühlen, aber dennoch fatalen Eloquenz zu machen. Wenn die »Nichtjuristen« unter ihrem Einfluss versuchen, ein unabhängiges, harmonisches Leben zu führen, machen die verbitterten
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