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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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Formulierungskünstler sie sich wieder gefügig und veranlassen sie womöglich sogar, gegen sich selbst oder andere physische Gewalt anzuwenden.
    Der Jurist als Protagonist – ob mit oder ohne Studium und Doktorgrad – wurde genau dadurch zu einer Bedrohung, dass er unfähig war, an seinen vermeintlichen Feinden eine mehr als formalisierte Rache zu nehmen. Angesichts dieses Interesses verbal geschickter Protagonisten am Paradigma sinnlosen Rachedursts überrascht es nicht, dass die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts wieder Bekanntschaft mit Hamlet, dem ersten großen literarischen Juristen machte. (Mallarmé erhob Hamlet im hermetischsten und verbalsten zeitgenössischen Klima des französischen Symbolismus in gewisser Weise zum Rollenmodell.) Denn die Bücher und Formulare des vorsichtigen dänischen Prinzen müssen in jede Beschäftigung mit jüngeren wortreichen Protagonisten eingehen, die sich einer rätselhaften, ungerechten Welt gegenübersehen.
    Hamlets Vorgehensweise ist die eines Juristen, nicht die eines Aristokraten oder Helden. Alles muss ihm bewiesen werden, auch das Selbstverständliche. Unabhängig von seiner intuitiven Reaktion und seiner ihm selbst bewussten »prophetischen« Seele werden endlose Kreuzverhöre und weitschweifige Argumentation zu seinem Stil. Als er bedrängt wird, auf den Bericht des Geists über Claudius’ Schurkentat direkt zu reagieren, unterdrückt er für immer den entsprechenden Impuls. Nach dem Abgang des Geists im ersten Aufzug geht Hamlet vom rhetorisch edlen Willen (»Und dein Gebot soll leben ganz allein/Im Buche meines Hirnes, unvermischt/Mit minder würd’gen Dingen.«) zu mehrdeutigen juristischen Verfahren über (»ich muß mir’s niederschreiben,/Daß einerlächeln kann, und immer lächeln,/Und doch ein Schurke sein«). Doch vergisst Hamlet im ganzen Stück nie, dass angesichts eines bekannten Bösen nur die erste, »unvermischte« Reaktion richtig ist. Daher setzt er im vierten Aufzug seinen Monolog über die katastrophale Niedertracht fort, zu genau nachzudenken (»Ein banger Zweifel, welcher zu genau/Bedenkt den Ausgang«). Ein edler Gedanke (das »Gebot« des Geists, den ungerechten Königsmord zu rächen) verliert, wird er durch vier geteilt, nicht nur seine ursprüngliche Kraft, sondern führt auch zu fehlgeleiteter verbaler Gewalt, Feigheit und paradoxerweise sinnloser Zerstörung. Hamlets Bildersprache im Monolog »Wie jeder Anlaß« beschwört in brillanter Weise das im Stück erfolgende Blutvergießen Unschuldiger. Sein legalistisches Zögern führt zum Tod von sechs relativ unbescholtenen Nebenfiguren. So spekuliert Hamlet am Grab darüber, dass der Schädel, in dem nutzlose Formulare einen dominanten Platz hatten, zu einem mit zwei Zungen redenden, Dinge vertuschenden Juristen gehört. Sein geduldiger Freund Horatio weiß wahrscheinlich, dass der Spott – stets Hamlets Ersatz für die in einer Situation erforderliche physische Reaktion – auf den Prinzen selbst zurückfällt. Unrecht konnte fortdauern und sogar um sich greifen, weil der Protagonist als Jurist lieber mit Wörtern spielte.
    Wie Mallarmés Gedanken müssen auch unsere zu Hamlet zurückgehen, um das moralische Unternehmen moderner Literatur auszuloten. In einem Kontext deutlichen Unrechts steht das edle Beispiel von Hamlets Sensibilität im Widerstreit mit den schändlichen Auswirkungen seiner wortreichen Ermittlungen. Mit seiner Betonung des Rechts bringt der moderne Roman diese grundlegende Dialektik zur vollen Reife.

Teil 1 – Der Konflikt zwischen Ressentiment und Gerechtigkeit
    […] der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele […] – suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen »es ist die Gerechtigkeit selbst«.
    Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 265

Das formalistische Modell: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Gegen den »Existentialismus«: Erster Teil der Geschichte
    In Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch [10] (1864) erreicht das Ressentiment literarisch womöglich einen paradigmatischen Ausdruck. Dieses Meisterwerk moderner Fiktion ist nicht so sehr für die unabhängige »existentialistische« Philosophie repräsentativ, für die es bekannt geworden ist, sondern eher für eine persönlicheGeschichte, die sich durch frustrierte Rachsucht und einen verdrehten narrativen Formalismus definiert. Der Aufbau der Geschichte, an der sich ihre ursprüngliche Aufteilung in zwei deutlich getrennte Abschnitte [11] ablesen

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