RECKLESS HEARTS
gebührenpflichtigen Seelsorgetelefon einreden wollen. Sie hatte ihm schließlich, nach einem Vier-Stunden-Telefonat über Gott und die Welt und vielen liebevoll aufmunternden Worten, zu mehr Sex mit seiner Frau und weiteren Anrufen geraten.
Und Selin?
Er hatte versucht, seine Vermählung mit ihr als etwas Gutes in seinem sonst so frustrierenden Leben zu betrachten, aber das häusliche Glück wollte sich partout nicht einstellen. »Zorla güzellik olmaz«, heißt es doch in einem türkischen Sprichwort: »Das Glück lässt sich nicht erzwingen«. Warum hielt sich keiner dran, verdammt?
Sabris junge Frau blieb traurig und abweisend. Sie hatte sich kurz nach der Hochzeitsfeier zu seiner großen Irritation und zur zweifelhaften Freude seiner frommen Eltern ein Kopftuch umgebunden und es seither nicht mehr abgenommen. Aber selbst der im Analysieren von menschlichen Motiven und Verhaltensweisen wenig begabte Sabri vermutete hinter Selins großer Verhüllungsnummer zu Recht alles andere als religiöse Motive. Aus Angst jedoch, sie könnte ihm gänzlich entgleiten, hielt er seine Fragen zurück und hoffte stillschweigend auf Nachwuchs, oder besser gesagt: die Gelegenheit, Nachwuchs zeugen zu dürfen ... welcher das Eis brechen und alle Herzen erwärmen sollte. Doch er hoffte jetzt schon so lange darauf, und von seiner ursprünglich großzügigen Geduld war nicht mehr viel übrig geblieben.
Und als ob diese bedrückende Gefühlsmelange nicht reichen würde, war nun durch Selins Pfannenattacke auch noch unsagbare Wut und Verzweiflung hinzugekommen. Wut nicht nur auf Selin, Wut auf irgendwie alles und jeden, aber am Allermeisten auf sich selbst. Denn er war nicht seinen eigenen Weg gegangen, hatte noch nicht einmal danach suchen dürfen, war mit »Zuckerwörtern« seiner Eltern mundtot erzogen, hatte sich nicht auf die Hinterbeine gestellt und sein Recht auf eigene Entscheidungen eingefordert.
Feigling !
Auf seiner Hochzeit hatte er voller Hingabe mit den jungen Männern im Kreis getanzt und das Taschentuch immer wieder jubelnd in die Höhe geschwungen und gelacht ... und hinterher … hinterher hatte er sich klammheimlich auf die Toilette verdrückt und - von Krämpfen geschüttelt - die halbverdaute Hochzeitstorte ausgekotzt, hatte anschließend mit eiskaltem Wasser den Angstschweiß aus seinem Gesicht geklatscht und war zurück auf seinem Hochzeitsthron neben Selin gekrochen.
Seinen Lebenslauf hatten andere bestimmt, oh ja, ganz vorne weg die eifrigen Eltern. So war das! Sogar Onkel Hüsseyin redete ihm ständig rein, was für ein Arsch …
Das waren Erkenntnisse, die verdammt noch mal ganz schön bitter waren. Und in dieser Nacht war Sabris seelische Pein an ihrem vorläufigen Höhepunkt.
***
Um kurz nach Mitternacht ging Atilla mit den Jungs Plan A zum hundertsten und letzten Mal durch. Auf dem Stadtplan, der vor ihnen auf dem Couchtisch ausgebreitet lag, war die Route, die sie von Schöneberg nach Neukölln fahren würden, mit einem roten Edding nachgezeichnet. Der Zielort, ein mehrstöckiges, heruntergekommenes Mietshaus in der Weichselstraße, war mit einem Kreuz markiert. Atilla fuhr mit dem Zeigefinger die rote Linie entlang und benannte die Straßen ihrer Route.
Punkt 1 Uhr 30 würden sie starten. Sie würden mit dem Minivan in die Weichselstraße fahren, unauffällig das Gebäude betreten, dann Treppen hoch bis zur obersten Etage … Niklas würde wie immer in Sekundenschnelle die Wohnungstür aufbrechen und diesmal keine Alarmanlage überlisten müssen, ha! Sie würden direkt ins Wohnzimmer vordringen, Jimmy würde den Tresor im Wandschrank aufknacken, den Inhalt in einen Sack packen und Atilla würde das Grußkärtchen hinterlegen - »Wir sehen uns in der Hölle, ihr Abschaum!« - dann wieder leise und möglichst schnell raus, Treppen runter, rein in den Wagen und mit Kitt zurück ins Quartier.
»Haben die Gentlemen noch irgendwelche Fragen?«
Atilla blickte jeden Einzelnen mit ernster Miene an. Niklas hob den Finger, als wäre er in der Schule. Atilla seufzte auf und deutete ihm zu sprechen. »Und was machen wir … ich mein … also … Atilla, was, wenn … wenn doch noch jemand in der Wohnung ist?« Niklas kratzte sich unruhig am Hinterkopf.
Wieso war er so nervös?
Atilla sah ihn verständnislos an, strich sich mit einer gleitenden Bewegung übers gepflegte Haar, klopfte nicht vorhandene Fusseln von seinem schwarzen Kaschmirpulli ab, schüttelte den Kopf, und Jimmy und Alex warfen sich
Weitere Kostenlose Bücher