Red Rabbit: Roman
in der Partei zeugt nicht gerade von vornehmer Zurückhaltung. In dieser Organisation kommt man nur mit rücksichtsloser Härte hoch – und bemerkenswert häufig sind die Überflieger jene Männer, die auf dem Weg an die Spitze ihre eigenen Mentoren abserviert haben. Das ist eine aus allen Fugen geratene darwinistische Gemeinschaft, Jack. Die Tüchtigsten überleben, aber sie beweisen sich, dass sie die Tüchtigsten sind, indem sie diejenigen vernichten, die eine Bedrohung für sie darstellen, oder indem sie manche Leute nur aus dem einen Grund vernichten, um ihre Rücksichtslosigkeit in dem von ihnen gewählten Kampfring zu demonstrieren.«
»Wie clever ist er?«, fragte Ryan als Nächstes.
Ein Zug an der Bruyèrepfeife. »Auf den Kopf gefallen ist er sicher nicht. Ausgeprägte Menschenkenntnis, wahrscheinlich ein guter – wenn nicht sogar hervorragender – Amateurpsychologe.«
»Sie haben ihn noch gar nicht mit einer Figur von Tolstoi oder Tschechow verglichen«, stellte Ryan fest. Harding hatte nämlich Literatur studiert.
Der Engländer machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das wäre zu einfach. Nein, Leute wie er kommen in der Literatur äußerst selten vor, weil es den Romanciers dafür an der nötigen Fantasie fehlt. Auch in der deutschen Literatur gab es keine Warnung vor einem Hitler, Jack. Stalin sah sich anscheinend als einen zweiten Iwan den Schrecklichen, und Sergei Eisenstein griff den Gedanken auf und drehte sein berühmtes Filmepos über diesen Burschen. Aber das ist nur etwas für Leute, die nicht über die Fantasie verfügen, Menschen als das zu sehen, was sie sind, und sie deshalb mit jemandem vergleichen müssen, den sie verstehen. Nein, Stalin war ein äußerst vielschichtiges Monster, das sich letzten Endes jedem Begreifen entzieht – außer vielleicht für jemanden mit einer Zulassung als Psychiater, die ich nicht habe. Man muss solche Menschen voll und ganz verstehen, um ihre Handlungen vorhersagen zu können, weil sie sich innerhalb ihres eigenen Kontexts sehr wohl rational verhalten. Das muss man nur begreifen – oder zumindest war ich immer dieser Überzeugung.«
»Manchmal denke ich, ich sollte Cathy für diese Arbeit gewinnen.«
»Weil sie Ärztin ist?«, fragte Harding.
Ryan nickte. »Ja, sie hat ein sehr gutes Gespür für das, was in anderen Menschen vor sich geht. Aus diesem Grund haben wir auch die Meinung von Ärzten über Michail Suslow eingeholt. Und keiner von denen war so ein Psychoheini«, rief Ryan seinem Kollegen in Erinnerung.
»Aber wieder zurück zu Andropow«, sagte Harding. »Wir wissen erstaunlich wenig über sein Privatleben. Es gab auch nie den Auftrag für eine ausführliche Studie. Wenn er zum Generalsekretär ernannt wird, kann ich mir vorstellen, dass auch seine Frau in der Öffentlichkeit auftritt. Auf jeden Fall besteht kein Grund zu der Annahme, dass er homosexuell ist. Wie Sie wissen, ist man, was diese Verirrung angeht, in der Sowjetunion nicht sehr tolerant. Bestimmt hätte ein Rivale dieses Wissen gegen ihn verwendet und damit Andropows Karriere ein für alle Mal ruiniert. Nein, so etwas muss man in der Sowjetunion sehr streng unter Verschluss halten. Da lebt man schon besser zölibatär.«
Okay, dachte Ryan, ich werde heute Abend den Admiral anrufen und ihm sagen, dass die Engländer auch nichts wissen. Es war seltsamerweise enttäuschend, aber irgendwie auch vorhersehbar. Die Lücken im Wissen der Geheimdienste waren für Außenstehende oft erstaunlich groß. Ryan war noch so neu in diesem Geschäft, dass es auch ihn überraschte und enttäuschte.
»Tja«, sagte Harding mit Blick auf die Uhr, »ich glaube, für heute haben wir Ihrer Majestät genug gedient.«
»Einverstanden.« Ryan stand auf und nahm sein Jackett vom Kleiderständer. Mit der U-Bahn zur Victoria Station und dann mit dem Lionel nach Hause. Die ständigen Bahnfahrten gingen ihm allmählich auf die Nerven. Um den Weg zur Arbeitsstelle zu verkürzen, wäre es besser gewesen, sich eine Wohnung in der Stadt zu nehmen, aber dann hätte Sally nicht viel grünes Gras zu sehen bekommen, auf dem sie spielen konnte, und in diesem Punkt war Cathy eisern. Ein erneuter Beweis dafür, dass er tatsächlich ein Pantoffelheld war, dachte Ryan auf dem Weg zum Aufzug. Na ja, es hätte schlimmer kommen können. Immerhin war es eine gute Frau, unter deren Pantoffel er stand.
Auf dem Heimweg vom Flughafen schaute Oberst Bubowoi noch in der Botschaft vorbei. Dort wartete eine kurze
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