Red Rabbit: Roman
nicht stimmberechtigten Mitglieder sahen nur zu und nickten.
Wie üblich wurde der Beschluss einstimmig angenommen. Trotz der Tatsache, dass einige in ihrem Schweigen Bedenken verborgen hielten, stimmte niemand mit Nein. In diesem Saal wollte keiner zu weit vom Kollektiv -Geist abweichen. Macht war hier genauso beschränkt wie überall sonst auf der Welt, ein Tatbestand, über den sie selten nachdachten und den sie nie ihren Handlungen zugrunde legten.
»Also dann…« Breschnew wandte sich Andropow zu. »Hiermit ist der KGB ermächtigt, die Operation durchzuführen, und möge Gott dieser polnischen Seele gnädig sein«, fügte er mit einem Anflug von Humor hinzu. »So, und was steht als Nächstes an?«
»Genosse, wenn ich vielleicht noch …«, begann Andropow und erhielt ein allgemeines Nicken zur Antwort. »Unser Bruder und Freund Michail Andreiewitsch Suslow wird nach langem und treuem Dienst an der uns allen am Herzen liegenden Partei bald aus dem Leben scheiden. Infolge seiner Krankheit ist sein Stuhl jetzt schon leer. Aber er sollte wieder besetzt werden. Deshalb schlage ich Michail Jewgeniewitsch Alexandrow als nächsten Zentralkomiteesekretär für ideologische Fragen mit voll stimmberechtigter Mitgliedschaft im Politbüro vor.«
Alexandrow schaffte es tatsächlich zu erröten. Er hob die Hände und erklärte mit äußerster Aufrichtigkeit: »Genossen, mein – unser – Freund ist noch am Leben. Ich kann seinen Platz unmöglich jetzt schon einnehmen.«
»Es spricht für Sie, dass Sie das sagen, Mischa«, bemerkte der Generalsekretär unter Verwendung von Alexandrows Kosenamen. »Aber Michail Andreiewitsch ist schwer krank und hat nicht mehr lang zu leben. Dennoch schlage ich vor, wir stellen Juris Antrag erst einmal zurück. Eine solche Ernennung muss selbstverständlich vom Zentralkomitee als Ganzem bestätigt werden.« Aber das war reine Formsache, wie jeder der Anwesenden wusste. Breschnew hatte Alexandrows Beförderung soeben seinen Segen erteilt, und das war alles, was dafür nötig war.
»Danke, Genosse Generalsekretär.« Und jetzt konnte Alexandrow auf den leeren Stuhl zu Breschnews Linken sehen und gewiss
sein, dass er in wenigen Wochen offiziell ihm gehören würde. Er würde wie alle anderen weinen, wenn Suslow starb, aber die Tränen würden kalt sein. Und Michail Andreiewitsch würde es sogar verstehen. Sein größtes Problem war jetzt, dem Tod entgegenzusehen, dem größten Geheimnis des Lebens, und sich zu fragen, was danach kam. Dieser Frage musste sich jeder in der Runde stellen, aber sie lag für alle anderen noch in weiter Ferne … vorerst. Das, dachte Juri Andropow, war ein Unterschied zwischen ihnen und dem Papst, der bald durch ihre Hände sterben würde.
Die Sitzung war kurz nach vier zu Ende. Die Teilnehmer verabschiedeten sich wie immer mit freundlichen Worten und Händeschütteln, bevor jeder seiner Wege ging. Andropow verließ den Saal mit Oberst Roschdestwenski im Schlepptau als einer der Letzten. Bald würde er es, wie es sich für den Generalsekretär gehörte, als Allerletzter tun.
»Genosse Vorsitzender, wenn Sie sich noch einen Moment gedulden könnten«, bat Roschdestwenski und verschwand auf die Toilette. Eineinhalb Minuten später kam er mit unbeschwerterem Schritt zurück.
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Aleksei«, sagte Andropow auf dem Weg nach draußen – diesmal nahm der KGB-Chef nicht den Lift, sondern die Treppe. »Und? Wie fanden Sie die Sitzung?«
»Genosse Breschnew ist gebrechlicher, als ich erwartet hatte.«
»Ja, allerdings. Es hat ihm nicht mehr viel geholfen, mit dem Rauchen aufzuhören.« Andropow griff nach einer seiner Marlboros in seine Jackentasche – aus Rücksicht auf Leonid Iljitsch rauchte inzwischen bei den Sitzungen des Politbüros niemand mehr, aber jetzt brauchte der KGB-Chef eine Zigarette. »Und sonst?«
»Es lief alles erstaunlich kollegial ab. Eigentlich habe ich Kontroversen erwartet, mehr Diskussionen.« Die Gespräche zwischen den Agenten vom Lubj anka-Platz waren wesentlich lebhafter, vor allem wenn es um Operationen ging.
»Sie sind sehr vorsichtig, Aleksei. Wie die meisten Menschen, die über viel Macht verfügen – und so sollte es auch sein. Aber sie unternehmen oft nichts, weil sie Angst davor haben, etwas Neues und anderes zu tun.« Andropow wusste jedoch, dass sein Land Veränderungen brauchte, und fragte sich, wie schwer es wohl wurde, sie einzuführen.
»Aber, Genosse Vorsitzender, unsere
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