Red Rabbit: Roman
durchdrehen würde, wenn er ihr von seinen Plänen erzählte, aber das war wenig wahrscheinlich. Sie hatte keine engen Verwandten – ihre Mutter war im letzten Jahr gestorben, was Irina immer noch betrauerte, und es gab weder Brüder noch Schwestern, die sie zurückhalten könnten. Wegen der Korruption unter der Belegschaft war sie zudem nicht sonderlich glücklich darüber, im GUM zu arbeiten. Er würde ihr versprechen, dass sie endlich das Klavier bekam, das sie sich so sehr wünschte.
Zaitzew arbeitete sich durch den Papierstapel, vielleicht etwas langsamer als gewöhnlich. Es gab nur wenige Leute, die richtig hart arbeiteten, selbst beim KGB. Ein zynisches Sprichwort in der Sowjetunion besagte: »Solange sie so tun, als würden sie uns bezahlen, so lange tun wir so, als würden wir arbeiten«, und dieses Prinzip galt auch beim KGB. Wenn man mehr als seine Quote erfüllte, wurde sie im folgenden Jahr einfach erhöht, ohne dass sich die Arbeitsbedingungen verbesserten – und so schufteten nur wenige hart genug, um als »Helden der Arbeit« gefeiert zu werden.
Kurz nach elf Uhr erschien Oberst Roschdestwenski im Fernmelderaum. Zaitzew machte ihn auf sich aufmerksam und winkte ihn zu sich.
»Ja, Genosse Major?«, fragte der Oberst.
»Genosse Oberst«, sagte Zaitzew ruhig, »es sind keine Nachrichten über sechs-sechs-sechs eingegangen. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Diese Frage verblüffte und beunruhigte Roschdestwenski. »Warum fragen Sie?«
»Genosse Oberst«, sagte Zaitzew bescheiden, »ich bin davon ausgegangen, dass diese Operation wichtig ist und ich der einzige Fernmeldeoffizier bin, der dafür eine Sicherheitsfreigabe hat. Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«
»Ah.« Roschdestwenski entspannte sich. »Nein, Genosse Major, es liegen keine Beschwerden über Ihre Arbeit vor. Aber für diese Operation ist eine Nachrichtenübermittlung dieser Art einfach nicht mehr nötig.«
»Verstehe. Vielen Dank, Genosse Oberst.«
»Sie sehen müde aus, Major Zaitzew. Haben Sie Probleme?«
»Nein, Genosse. Ich fürchte nur, ich könnte Urlaub gebrauchen. Ich konnte im Sommer nicht verreisen. Eine oder zwei Wochen Urlaub wären wirklich ein Segen, bevor der Winter kommt.«
»Sehr gut. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie mit der Planung irgendwelche Probleme haben. Ich werde versuchen, das für Sie zu regeln.«
Zaitzew zwang sich zu einem dankbaren Lächeln. »Vielen Dank, Genosse Oberst.«
»Sie leisten hier unten gute Arbeit, Zaitzew. Wir haben alle ein Anrecht auf Urlaub, selbst die Mitarbeiter der Staatssicherheit.«
»Nochmals vielen Dank, Genosse Oberst. Ich diene der Sowjetunion.«
Roschdestwenski nickte und wandte sich zum Gehen. Als er zur Tür hinaus war, atmete Zaitzew erst einmal tief durch und machte sich dann wieder daran, die in den Mitteilungen enthaltenen Informationen im Kopf zu speichern… allerdings in diesem Fall nicht zum Wohle der Sowjetunion. Also, rekapitulierte er, Operation 666 wird nun per Kurier abgewickelt. Er würde zwar von nun an nichts mehr darüber erfahren, aber immerhin wusste er jetzt, dass 666 höchste Priorität hatte. Sie wollten es tatsächlich durchziehen. Er fragte sich, ob die Amerikaner ihn noch schnell genug rausholen konnten, sodass das Attentat verhindert wurde. Zwar verfügte er über die notwendigen Informationen, doch stand es nicht in seiner
Macht, etwas zu unternehmen. Wie Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos, wusste er, was passieren würde, war jedoch genauso wenig wie sie in der Lage, jemanden davon zu überzeugen, dass etwas unternommen werden musste. Kassandra hatte immerhin die Götter gegen sich aufgebracht und war deswegen mit diesem Fluch belegt worden – aber was hatte er getan, um derart bestraft zu werden? fragte sich Zaitzew, plötzlich wütend über die Ineffizienz der CIA. Schließlich konnte er nicht einfach einen Pan-Am-Flug vom Internationalen Flughafen Scheremetjewo aus buchen, oder?
22. Kapitel
VORBEREITUNGEN
Das zweite Gespräch unter vier Augen fand im rückwärtigen Teil des Kaufhauses GUM statt, wo ein gewisses kleines Häschen verschiedene Herbst- und Winterkleider anprobierte, die ihr der Vater kaufen wollte.
Auch Mary Pat, bei den Foleys fürs Kleiderkaufen zuständig, schlenderte durch die Reihen und begutachtete das Angebot. Überrascht stellte sie fest, dass nicht alles sowjetische Billigware war. Einige Sachen waren sogar ganz hübsch … wenn auch nicht hübsch genug, als dass sie sie
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