Red Rabbit: Roman
wäre. Vielleicht geschah dies, wenn er
zum Oberst aufrückte, hoffte Irina. Bis dahin würden sie sich mit dem begnügen müssen, was ihnen als Staatsbeamte im mittleren Dienst geboten wurde. Mit ihren beiden Gehältern ging es ihnen beileibe nicht schlecht. Und außerdem hatten sie ja eine Einkaufsberechtigung in den KGB-Läden, wo sie für sich und Swetlana ein paar hübsche Dinge kaufen konnte. Und, wer weiß, vielleicht würden sie sich ja bald ein zweites Kind erlauben können. Sie waren beide noch jung genug, und ein Sohn würde ihr Familienglück vervollkommnen.
»Gab’s heute was Interessantes?«, fragte sie wie an jedem Tag, scherzend.
»Interessantes gibt es bei uns nie«, antwortete er wie immer. Nein, nur die übliche Korrespondenz mit den Agenten im Einsatz, Nachrichten, die er in die jeweiligen Fächer legte, wo sie von Hausboten abgeholt und an die zuständigen übergeordneten Stellen in den oberen Stockwerken verteilt wurden. Heute war ein hoher Offizier, ein Oberst, zu ihm ins Büro gekommen, um sich über Details einer bestimmten Operation zu informieren. Zwanzig Minuten später war er wieder verschwunden, ohne ein freundliches Wort gesagt oder auch nur die Miene zu einem Lächeln verzogen zu haben. Nur an seiner Begleitung hatte Oleg erkennen können, dass es sich um ein hohes Tier handelte, um den Verantwortlichen für diese Operation. Die mit seiner Begleitung gewechselten Worte waren allerdings zu leise gewesen, als dass Oleg etwas verstanden hätte – in seiner Abteilung wurde immer nur im Flüsterton gesprochen, wenn überhaupt. Außerdem hatte man ihn darauf gedrillt, nicht übermäßig viel Interesse zu zeigen.
Aber auch der beste Drill hatte Grenzen. Major Oleg Iwanowitsch Zaitzew war intelligent und konnte seinen Verstand nicht auf Kommando ausschalten. Schließlich verlangte sein Job ein nicht geringes Maß an Urteilsvermögen, das aber wie ein peinliches Geheimnis zu hüten war. An seinen direkten Vorgesetzten richtete er ausschließlich demütig vorgetragene Sätze in Frageform. Doch dann wurden alle seine auf diese Weise geäußerten Wertungen bestätigt. Oleg spürte, dass er Talent und große Möglichkeiten hatte. Er stand vor einer steilen Karriere. Mehr Geld, mehr Privilegien und, nach und nach, mehr Unabhängigkeit – nein, richtiger: ein bisschen mehr Eigenverantwortung in seinem Job. Eines Tages
würde er es sich vielleicht erlauben können, am Sinn und Zweck einer Nachricht, die er weiterzuleiten hatte, Zweifel anzumelden. Ist das denn wirklich in unserem Interesse, Genosse? würde er dann fragen wollen. Es lag natürlich nicht an ihm, Entscheidungen zu operativen Vorgängen zu treffen, aber manchmal wünschte er sich doch, an bestimmten Direktiven zumindest versteckte Kritik üben zu dürfen. Wenn er zum Beispiel eine Nachricht an den Mann in Rom, Agent 457, hinausgehen sah, fragte es sich jedes Mal, ob eine so riskante Mission überhaupt zu rechtfertigen war. Vor zwei Monaten erst hatte es eine schlimme Pleite gegeben: Aus Bonn war die Warnung über Probleme mit der westdeutschen Spionageaufklärung eingegangen, und der Agent vor Ort hatte dringend um neue Instruktionen gebeten, worauf ihm der Befehl erteilt wurde, seine Mission fortzusetzen, ohne die Kompetenz seines Vorgesetzten in Frage zu stellen. Wenig später war dieser Agent spurlos verschwunden. Festgenommen oder erschossen? fragte sich Oleg. Er kannte manche Einsatzagenten mit ihrem richtigen Namen und wusste so manches von operativen Zielen und Vorhaben. Ja, er kannte die Decknamen Hunderter von KGB-Informanten im Ausland. Manchmal war seine Arbeit so spannend wie die Lektüre eines Spionageromans, denn es gab nicht wenige Agenten, die eine ausgeprägte literarische Ader hatten, und deren Berichte waren längst nicht so trocken wie die Kommuniqués von Militäroffizieren. Im Gegenteil, sie ließen sich gern in blumigen Worten über den Geisteszustand ihrer Informanten aus und über das, was sie von einer Information oder einer Mission ganz persönlich und intuitiv hielten. Manche dieser Texte lasen sich wie interessante Reiseberichte, geschrieben für ein zahlendes Publikum. Es war nicht Zaitzews Aufgabe, solche Nachrichten zu verarbeiten, aber er hatte einen eigenen Kopf und war intelligent genug, auch verschlüsselte Hinweise aufzudecken. War zum Beispiel das dritte Wort falsch buchstabiert, mochte dies bedeuten, dass der Agent, der da Bericht erstattete, kompromittiert war. Jeder Agent hatte sein eigenes
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