Rede, dass ich dich sehe
»Reden ist Führung«
An dem Tag, an dem ich beginne, diese Rede niederzuschreiben, hörte und sah ich folgende Meldungen: Antrittsrede eines der nominierten Präsidentschaftskandidaten der USA . »Auf einem Parteitag der unkritischen Reflexion und Huldigung«, so ein Kommentator, soll »eine einzige Rede zur Realität zurückführen«; was zwar nicht geschieht, aber es sei eine »gut geschriebene, wenn auch nicht perfekt vorgetragene Rede« gewesen, und vor allem: »zur besten Fernsehzeit über die Sender gegangen«. Ein beträchtliches Team von Redenschreibern wird lange an diesem Text gearbeitet haben.
Am Abend in den Fernsehnachrichten: Die Shell-Mitarbeiter, die von jungen Anwohnern des Niger-Deltas als Geiseln genommen wurden, sind unversehrt wieder frei. Auf dem Bildschirm erscheint ein Dorfältester, ein würdevoller schwarzer Mann, der sagt: Unser Problem ist: Wir haben keine Stimme. – Die Region ist als Folge der rücksichtslosen Ausbeutung ihres Reichtums Öl durch einen global agierenden Konzern zerstört, ihre Menschen sind ins Elend getrieben worden. Sie haben keine Stimme. Wir hören sie nicht.
Derselbe Tag: Ein Abgeordneter von Bündnis 90 / Die Grünen meint, auf der Festveranstaltung zum zehnten Jahrestag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland dürfe der frühere Bundeskanzler nicht als Redner auftreten. Wir haben erlebt, wie intensiv um diesen Punkt gestritten wurde.
»Reden ist Führung«? Zeigen diese aktuellen Beispiele nicht: Zunächst und vor allem bedeutet das Privileg, öffentlich das Wort zu ergreifen, Einfluß und Macht, und der Kampf um das Rede-Recht ist ein Machtkampf. Ich spreche, wie Sie merken, von der politischen Rede – einer wichtigen Untergattung
aus dem schier unüberschaubaren Bereich der Gattung »Rede«, zu dem natürlich auch Predigt, akademische Vorlesung, Fest- und Gedenkrede, Laudatio und Dankrede, das Plädoyer vor Gericht gehören. Daß politische Reden nicht nur von Politikern gehalten werden, wird auch mein Beitrag belegen. Doch wer zu wem worüber öffentlich sprechen darf, wird in der parlamentarischen Demokratie kaum dem Zufall überlassen. So war es kein zufälliger Lapsus, daß zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls im Bundestag ursprünglich kein Redner aus der DDR vorgesehen war. Der Vertreter der DDR -Bevölkerung war vergessen worden aus dem gleichen Grund, aus dem der Bundeskanzler im Frühsommer vor dem Parlament zu den in den neuen Bundesländern gleichbleibend hohen Arbeitslosenzahlen bedauernd sagte: Die sind leider noch nicht so weit wie wir. – Dieser spontane Satz, der natürlich keinem Redenschreiber unterlaufen wäre, enthielt echte Empfindung, die wohl von vielen Westdeutschen geteilt wird; ich verstehe und respektiere diese Empfindung und bin dankbar, daß sie, wenn auch versehentlich, ausgesprochen wurde.
Ein solcher Satz hätte im Deutschen Bundestag, denke ich, zu einer aufrichtigen Debatte um den mentalen Stand der deutschen Einheit führen können, mit Rede und Widerrede, mit dem Bekenntnis zu den Fremdheitsgefühlen auf beiden Seiten, auch zu Zorn und Enttäuschungen, eine Debatte ohne Unterstellungen und mit dem Mut der Rednerinnen und Redner, ohne Rücksicht auf Fraktionszwang und auf die eigene Klientel ihre Meinung zu sagen. Womit ich diese meine Wunschvorstellung von »Rede als Dialog« selbst in das Reich der Utopie verwiesen hätte. Die Reden, die wir am 3. Oktober hören werden, werden von anderer Art sein.
Ein Wort habe ich mit unserem Thema zusammengebracht, das Sie vielleicht verwundert hat: Empfindung. 1977 hat der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, den ich einen meiner Lehrer nennen darf, in Nürnberg eine Rede gehalten, der er die Überschrift gab: Das deutsche Selbstempfinden . Er leitet das
merkwürdig schwache Selbstgefühl von uns Deutschen, das sich in Selbsthaß äußern oder zu Nationalismus aufblähen und in Haß und Gewalt gegen unsere Nachbarn, gegen Fremdes und Fremde ausbrechen kann, aus unserer Geschichte her – aus jener »deutschen Misere« seit den Bauernkriegen, die die Herausbildung einer nationalstaatlichen Basis bei den Deutschen verhindert hat – anders als bei Franzosen und Engländern. Als bei unseren westlichen Nachbarvölkern eine neue Welt mit einer großen Blüte der Kultur sich gegen das Mittelalter durchsetzte, standen, sagt Hans Mayer, die »Gedanken und Empfindungen« der deutschen Schriftsteller und Philosophen allzu oft »im Schatten einer politischen und
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