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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Toccata. Wie sie auf einmal, wider alle Vorsicht, die Fenster aufgerissen und den Bach »hinausgedroschen« hätten. »Und stell dir vor«, habe der Vater ihr gesagt, »kein Mensch hat sich gerührt. Ein Überlebnis.« Das ist eine der Einstreuungen jüdischer Geschichten aus der Tradition jüdischer Vorfahren und anderer naher Menschen, die aus dem Gewebe dieses Textes hervortreten und ihm eine besondere Tiefe geben. Wie die Er
innerungen an den Arzt, Alik, Alka, Alika, Arkascha, der aus Kiew kommt, der Strahlenopfer von Tschernobyl behandelt hat, der in Amsterdam gelebt hat und dem sie die »gestundete Zeit« verdankt und anvertraut, bis seine eigene Zeit abgelaufen ist und auch er stirbt und sie auch diesem Tod beiwohnt. Sie setzt ihm in diesem Buch ein unvergeßliches Memorial. »Totsein heißt in der Zukunft sein«, hat er gesagt. Was heißt das denn. In diesem Buch stehen viele Fragen.
    Es ist eine Beschwörung von Erinnerung. »Wo ist das jetzt, was war?« »Die Angst, die mich treibt, ist die zu vergessen. … Wenn ich durch Gedankenfluchten eindringe in Vergangenheitsräume, Herzkammern, in denen das Gewesene, das Verschmerzte wie das Unverschmerzte, überdauert, fortfährt, nie vergeht, wenn das Erinnern sich ereignet, das Innewerden, Innesein« … Das ist, was in diesem Buch geschieht. Das Erinnern greift weit zurück. Kindheitsszenen steigen auf, Besuche in Kranken- und Sterbezimmern an der Hand des Vaters, Blicke in die Pathologie, Faszination durch Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp , der, indem er den Leichnam seziere, »die Selbstoffenbarung Gottes in der menschlichen Anatomie vor Augen führe«. Das war des Vaters ärztliches Credo. Das Leben im Kindheitshaus, das erfüllt ist vom Gedenken an die Bedrückung in den Jahren des Dritten Reiches, die Nächte mit der jüdischen Großmutter, der das Kind die Frage stellt: Was geschieht mit den Toten?, und die ihm davon spricht, wie die Seeleneinheit des Menschen zerriß, als er begann, statt Gott sich selbst zu lieben. Und das Kind hört vom Gottesfunken, der in den Gebeinen des Toten bleibe bis zum Tag der Auferstehung. Und die Großmutter spricht ihm mit den Worten der Kabbala von den drei Stufen, in denen die Seele den Körper verläßt und der Tod geschieht. »Doch alles, was einmal eins war, kann niemals vollends auseinanderkommen.«
    Die Sehnsucht nach dem Mysterium und nach der großen Liebe. Da zieht sie »die Bühnenschuhe an«. »Vorstellung, Einbildung, Simulation, Emulation – Theater?« »Die Leere mit Thea
ter füllen zu wollen.« Da liest sie in den Schöpfungsmythen der Alten. »Hat denn die Liebe uns den Tod gebracht?«
    »Oder wir. Wir standen voreinander. Wir sagten ja. Ja, sagte ich. Ja, rief er mir.
    Und hier beginnt die Erzählung.«
    Eine Erzählung von der Liebe, die angstvoll erlebt, wie ihre Zeit abläuft. Nachts als Gebet das fehlende Elfte Gebot: Du sollst nicht sterben.
    Es ist der Mann, der stirbt. Die Frau, die dieses Sterben begleitet. Zuerst in jenen unheilvollen glühend heißen Pfingsttagen auf einer Intensivstation, auf welcher der Patient nichts anderes ist als ein krankes Stück Fleisch, auf der man nichts weiß von den Einsichten der neueren Medizin, von der heilenden Kraft der Gedanken, die man in dem Kranken wecken müßte, und wo gerade das fehlt, was der Heilende dem Leidenden entgegenbringen müßte: Einfühlung, Ehrfurcht. »Auf den Monitoren über den Betten steht, was die Instrumente messen. Gemessen wird, was meßbar ist.« »Der Mann ist jetzt ein Fall.« Der Fall wird den »von uns selbst erfundenen Maschinen« überantwortet, »die wir verzweifelt für berechenbar halten wollen«. Und der Ärztehierarchie, die als »Chefvisite« durch die Krankenzimmer fegt. »Als sei, seit ich an Vaters Hand durch die Gänge der Klinkerkliniken getanzt war, das Herrenmenschentheater nicht von den Spielplänen gestrichen, als sei die Mitläuferposse nicht längst schon abgespielt.«
    Und zwischen den düsteren Klinikbildern, wo jeder in seine Rolle hineingezwungen ist, Assoziationen über Wirkungen des Theaters: »Was wir uns aber vorstellen, geschieht. Die Figur betritt die Bühne und sucht den Tod. … Der Tod kommt in fünf Akten. Die Todesangst vereint das Publikum. Das Publikum vereint sich in der Todesangst mit seinem Helden.«
    Hier wird vom Sterben erzählt in fünf Kapiteln. Die Todesangst liegt dem sich überschlagenden Getriebe unserer Spaßgesellschaft zugrunde. Wir wollen uns den Tod vom Leibe halten. Auf

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