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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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daß noch einmal, etwas mehr als hundertvierzig Jahre später, 1991, in der Frankfurter Paulskirche deutsche Frauen und Männer aus Ost und West den Entwurf einer Verfassung für einen »demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder« diskutierten? »Verfassungsgebung ist ein Ausdruck gemeinsamer Selbstfindung«, heißt es in der Paulskirchenerklärung vom Juni 1991. Ja: Hier ist das deutsche Selbstempfinden einmal auf der Höhe der Zeit. Der vernünftige Bürger, die vernünftige Bürgerin artikulieren in öffentlicher Rede ihre Interessen. Vergebens, wie Sie sich wohl erinnern. Der Einigungsprozeß der Deutschen verlief in repräsentativ-, nicht in basisdemokratischen Bahnen. – 1992 war ich einmal im Zeughaus in Berlin Unter den Linden in jenem Raum, in dem eingerollt die Spruchbänder und Plakate von der Demon
stration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz lagerten – einst beredte, nun verstummte Zeugen einer Volkserhebung.
    Fürchten Sie nicht, daß ich unser Thema aus dem Auge verliere. »Reden ist Führung«? Jedenfalls erhebt der Redner häufig genug diesen Anspruch. So Bismarck 1867 in seiner Rede vor dem Norddeutschen Bund, übrigens auch eine Verfassungsdiskussion: »Meine Herren, setzen wir Deutschland in den Sattel, reiten wird es schon können!« Dagegen August Bebel, grundsätzlich die Vorherrschaft Preußens zurückweisend: »Gegen einen Bund, durch den Deutschland zu einer großen Kaserne wird«. So werden die deutschen Sozialdemokraten zu »vaterlandslosen Gesellen«, so spaltet das deutsche Selbstempfinden sich wiederum, so driftet die erzkonservative herrschende Schicht weit ab von den Gedanken und von der Sprache der Aufklärer und versteigt sich in der Person ihres ersten Repräsentanten, inzwischen deutscher Kaiser, zu regelrechten Mordaufrufen. Wilhelm II . verabschiedet am 27. Juli 1900 auf dem Pier von Bremerhaven das deutsche Kontingent zur Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstands in China mit den spontanen Worten: »Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. … Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.« Die berüchtigte Hunnenrede also, nach der im Ersten Weltkrieg dann die deutschen Soldaten in den Ländern ihrer Gegner »Hunnen« genannt werden. Fast wäre diese Rede der Nachwelt verlorengegangen. Der Staatssekretär des Äußeren erließ an die anwesenden Korrespondenten das strikte Verbot, diesen Abschnitt aus der Rede seines Herrn zu veröffentlichen. Nur hatte ein einziger Korrespondent einer unbedeutenden Zeitung, abseits auf dem Dach eines Lagerhauses
hockend, die Rede wörtlich mitgeschrieben, übermittelte sie in aller Unbefangenheit unverzüglich seiner Redaktion, die den vollen Wortlaut druckte. Der Erfolg im Ausland war nachhaltig.
    »Reden ist Führung«? Da kommt es doch darauf an, wer führt, und wohin. Zwar verstummen die Stimmen der Vernunft in Deutschland auch in der Weimarer Republik nicht, bis sie außer Landes gejagt werden; doch das nach dem Ersten Weltkrieg tief verunsicherte, tief gedemütigte, fehlgeleitete deutsche Selbstempfinden neigt sich immer mehr jenen Stimmen zu, die ihm schmeicheln, die es mit Größenphantasien füttern und seine ohnmächtige Wut auf irrationale Ziele lenken. Es wird Sie kaum verwundern, daß ein Mann namens Adolf Hitler sich in seinem Buch Mein Kampf zu unserem Thema Gedanken gemacht hat. Ihm schwant, »daß alle gewaltigen, weltumwälzenden Ereignisse nicht durch Geschriebenes, sondern durch das gesprochene Wort herbeigeführt worden sind«. Die bürgerliche Intelligenz protestiere gegen eine solche Auffassung ja nur, weil ihr selbst die Kraft und Fähigkeit der Massenbeeinflussung durch das gesprochene Wort ersichtlich fehle. »Die ganze Zeitungsflut und alle Bücher gleiten an den Millionen der unteren Schichten ab wie Wasser vom geölten Leder«, glaubt Hitler. Die »Beeinträchtigung der Willensfreiheit der Zuhörer« ist sein erklärtes Ziel. Versammlungen seien nur für den Abend einzuberufen: »Morgens und selbst tagsüber scheinen die willensmäßigen Kräfte des Menschen sich noch in höchster Energie gegen den Versuch der Aufzwingung eines fremden Willens und einer fremden

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