Rede, dass ich dich sehe
den Seiten, von denen hier die Rede ist, geht die Erzählerin
ganz nah, ganz schutzlos an den Tod heran. »Seit uns kein Gott mehr spricht, herrscht Schweigen übern Tod bis in den Tod. Nie war die Angst so groß, nie war sie so gefürchtet, nie wurde die Angstfrage heimlicher gestellt, nie war die Angstgemeinschaft so verschworen, ignorant und konsequent … Die Angst ist eine Heidenangst … Wir ignorieren, treiben hier- und dorthin von uns ab und finden erst zu uns zurück im letzten Angesichte unserer Endlichkeit mit dem einsilbigsten Einsilber Tod als Gegenüber …«
Und »so wird dem Sterbenden das Recht verweigert, zu erfahren, daß er stirbt, und bis in den Tod hinein von ihm verlangt, sich zu verhalten, als ginge es um Überleben«.
Ein Lebensbuch. »Nie lebt man so sehr, wie wenn man stirbt.« Der wirklichen Wirklichkeit, dem Lebendigsten, auf der Spur. Jener Spur, die, wie die Neurowissenschaftler heute wissen, jeder Gedanke, jedes Gespräch, jede Erfahrung in den Synapsen und Neuronenbahnen unseres Gehirns erzeugen, und so schaffen sie Gedächtnis, machen Erinnern möglich: Kontinuität – Voraussetzung für die Herausbildung einer Person. Wo also Immaterielles in Sicht- und Meßbares übergeht und nun, wer hätte das gedacht, die Wissenschaftler verschiedener Disziplinen sich in der Erforschung der Energie als der Grundlage auch des materiellen Seins begegnen. »Leben ist Energie und wandelt sich in seinem Lauf um in Erinnerung« – dies wäre eine Selbstaussage, die den Intentionen der Erzählerin am nächsten kommt. Und die, nach einer langen Zeit der strikten Trennung von Wissenschaft und Literatur, erste Andeutungen einer möglichen Berührung zwischen beiden macht.
Und eben dies: Daß Energie unzerstörbar ist, bleibt die Gewißheit, an welche die Überlebende sich halten kann. Kein billiger Trost, keine Minderung der Angst, der Trauer, die in ihrer ganzen Gewalt zugelassen werden. Während der Sterbende sich entfernt, mit einer Welt in Kontakt tritt, in die die Zurückbleibende ihm nicht folgen kann. »Kommst du mit?« Eine »Erwar
tung, die« sie »nicht erfüllen kann«. Der Sterbende stirbt. »Der Spalt reißt auf.« Das Jenseitsland erscheint für Bruchteile einer Erdensekunde. Sein ungeheurer Name: Ewigkeit.
Die Sprache, die sich dem Sterben gestellt hat, stellt sich nun, mit dem notwendigen Abstand von Jahren, dem »reinen Hernach«. Der Tod mit seinem ganzen Schrecken. »Dann ist der Schrecken heilig.« Die Verstörung der Überlebenden. Der Schmerz in seiner Urgewalt. Das Hinuntersteigen in den »Schreckensgrund«. Die unbegreifliche und unannehmbare Katastrophe, daß, was immer man von der Unzerstörbarkeit von Energie erhoffen, denken, wissen mag, wie immer man die Dauer von Erinnerung beschwören mag, doch mit jedem Toten der ganze Kosmos, den er im Lauf seines Lebens in sich aufgenommen, entwickelt, ständig erweitert, im wörtlichen Sinn verkörpert hat, für immer dahingeht: Ein unersetzlicher Verlust. Das ist der Klage wohl wert, die denn auch durch die Jahrhunderte angestimmt wird und in Dichtung, Literatur, Lied und Musik erklingt. Nichts könnte menschlicher sein. Und kaum etwas bestürzender, als wenn die Trauer und die Klage in unserer Gegenwart vermieden werden und an ihrer Stelle die namenlose Entsorgung der Toten stattfindet und eine unsägliche Worterfindung eine unsägliche Praxis bezeichnet: »Bestattungstourismus«. Was heißt, eine der ältesten Traditionen mißachten, die aus der Ur-Zeit unserer Kultur auf uns gekommen ist, weil man ihre Bedeutung nicht mehr kennt und sie nicht mehr zu brauchen glaubt. Sie hat aber ihren Sinn. Ihre Preisgabe führt zu einer folgenschweren Verarmung der Werte, auf die wir uns beziehen oder doch beziehen sollten. Nicht zufällig hat in unserer Sprache das Wort »Gedächtnis« eine doppelte Bedeutung: als Ort für Erinnerung und für Gedenken.
Dieses Buch stellt sich auf neue Art in diese Tradition. Es ist schonungslos offen, unerschrocken persönlich, nicht aber »privat«. Seine Sprache, meditierend, fragend, nachdenkend, klagend, erfindungsreich, umkreist eine unheilbare Wunde. Und es ist auf – darf das Wort hier stehen? – beglückende Weise über
persönlich: die Allgemeinheit angehend, jeden betreffend. Es rührt an die Substanz unseres Selbstverständnisses. Und es bestärkt uns im humanen Umgang mit den Toten, mit den Lebenden, miteinander.
2008
2.
Rede, daß wir dich sehen
Versuch zu dem gegebenen Thema
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