Rede, dass ich dich sehe
gesellschaftlichen Niederlage« und »im Gegensatz zu den politischen Ordnungen«. Dieser frühe Dualismus von Geist und Macht hat das deutsche Selbstempfinden an der Wurzel geschädigt, bis heute, behaupte ich. »Auf der Suche nach dem deutschen Selbstempfinden« könnte man eine Traditionslinie in unserer Literatur und Philosophie, aber eben auch in der Redekultur der Deutschen überschreiben; lassen Sie mich Ihnen, unsystematisch und unvollständig, dafür einige Beispiele nennen.
Die deutsche Aufklärung wies der Rhetorik, der Kunst der Rede, einen herausragenden Platz zu – kaum überraschend, da sie ja von der edlen Natur und der Erziehbarkeit des Menschen überzeugt war. Weil sie, anders als in Frankreich, gesellschaftlich folgenlos blieb, wurden – fast hätte ich gesagt: statt dessen – hohe moralische Anforderungen an den Redner gestellt. Einer der frühesten Aufklärer, Johann Christoph Gottsched, Mitglied der »Vertrauten Rednergesellschaft«, verlangt, »daß ein Redner ein ehrlicher Mann sein muß«, »tugendhafter« als seine Mitbürger, weil er »eine Kunst in seiner Gewalt hat, die sehr viel Nutzen schaffen kann, wenn sie wohl angewandt wird«. Wozu angewandt? Nun eben, die Zeitgenossen herauszuführen aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Schreibend, redend entwickelt diese kleine Gruppe gebildeter Männer das Ideal des aufgeklärten, sittlich denkenden und handeln
den, dem Gemeinwohl und der Nation – das Wort kommt immer häufiger vor – verpflichteten Bürgers. Der Citoyen, nicht der Bourgeois deutscher Nation war in den Köpfen und in den Reden dieser Männer vorgebildet, jedoch das schwächliche Bürgertum, dem sie entstammten – arme Elternhäuser, Pfarrer, Lehrer, Handwerker, auch niederer Adel –, war nicht imstande, die politischen und ökonomischen Verhältnisse zu schaffen, aus denen heraus sich freie, selbstbewußte Bürger hätten entwickeln können. Das deutsche Selbstempfinden sammelte sich im deutschen Untertan – ein Typ, den die Literatur aufzuspüren und zu schildern begann, der sich von da an unheilvoll durch die Jahrhunderte zieht und mit dem deutsche Politiker, auch als Redner, rechnen mußten und wohl auch noch müssen: In seiner heutigen Ausformung begründet er sein Ressentiment gegen deutsche Staatsbürger anderer Herkunft mit seinem »deutschen Blut« und seiner Angst vor »Überfremdung«. Und weiß nicht, daß seine heutigen irrationalen Vorurteile ins 17. und 18. Jahrhundert zurückreichen, in denen Deutschland es versäumte, einen modernen Rechtsstaat wie in England und Frankreich zu entwickeln.
»Vernunft!« ist eines der Fahnenwörter jener Riege wackerer Männer im 17., im 18. Jahrhundert, und sie glaubten an den Sieg der Vernünftigen. Wenn die Realität dem Ideal gar zu sehr widerspricht, macht man sich Illusionen. Nicht ohne Rührung betrachten wir gründlich desillusionierten Heutigen das Gemälde, das Schiller in seiner Rede Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? von seiner Epoche entwirft: Ein »großer Schritt zur Veredlung« sei geschehen; jedoch, so sagt er immerhin, »auch in unser Zeitalter haben sich noch manche barbarische Überreste aus den vorigen eingedrungen, … die das Zeitalter der Vernunft nicht verewigen sollte«. Und, bestürzende Selbsttäuschung: »Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen.« So gesprochen im Mai 1789, im Jahr der
Französischen Revolution, in dem die Franzosen durch die »barbarischen« sozialen Verhältnisse, aber nicht zuletzt auch durch unerhörte Reden zu unerhörten Taten getrieben wurden und die europäische Staatenfamilie in Gestalt ihrer gekrönten Häupter, aufs höchste alarmiert, nicht zögert, sich gegen ihr abtrünniges Glied zu verbünden und in Marsch zu setzen, das deutsche Kontingent immer dabei, mit ihm als Begleiter seines Herzogs – Goethe.
Reden, wie die Franzosen sie zu hören kriegen, werden in Deutschland fast nicht gehalten; eine hochinteressante Ausnahme muß ich nennen. »Mitbürger!« hebt der Naturwissenschaftler, Weltreisende, Schriftsteller Georg Forster seine Rede über die Vereinigung des rheinisch-deutschen Freistaats mit der Frankenrepublik an. Zeit der Handlung: März 1793; Ort der Handlung: Mainz. Forster, Präsident des Jakobinerclubs, spricht als Abgeordneter des »Rheinisch-deutschen Nationalkonvents«, des ersten
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