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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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versetzt werden. Selbst wenn eine Geschichte nicht ausdrücklich mit einem Happy-End erfreut, scheint doch der Handlungsbogen, auf den man sich verlassen kann, scheint das immer wieder neu gemischte Ensemble von Personen – die wir nicht mehr »Helden« nennen – schon beruhigend zu wirken. Und die Frage, wieviel und welche Art von Realität diese Techniken noch erfassen können, die besonders das 18. und das 19. Jahrhundert uns überliefert und die in der Erzeugung von Spannung ein unglaubliches Raffinement erreicht haben, wird bei der Romanlektüre, am Fernsehabend kaum gestellt.
    Hier nun aber, in dem neuen Text von Ulla Berkéwicz, keine Handlung, keine vorhersehbare Struktur, kein Anfang, Mitte, Ende. Nicht der Ansatz einer »story«. Und auch keine Figuren, die, in Konflikte verwickelt, Träger einer Entwicklung würden.
    Was aber dann?
    Ein Sprechen, das zu übermitteln versucht, was sich der Sprache entzieht, ein ungeheurer Erfahrungsbereich, den wir mit dem Wort »Tod« zu bannen suchen. In diesem Buch wird geliebt, es wird gestorben, es wird das Sterben begleitet, es werden die Fassungslosigkeit und die Trauer um einen Verlust nicht »benannt«, sondern in dem Text aufgehoben. Das »Thema« aber, das hinter diesen nicht ungewöhnlich klingenden Stichwörtern steht (von Liebe und Tod haben wir doch auch anderswo schon gelesen), ist ein umfassenderes, grundsätzlicheres: Es ist die Spannung zwischen »Realität« – das, was wir sehen, hören, riechen, tasten können – und »Wirklichkeit«, das Immaterielle, Geistige, das unsichtbar, doch mächtig wirkt.
    Diese Spannung hat Ulla Berkéwicz in ihren Büchern früh spüren lassen. Sie hat ihre Figuren, oder, zumeist, die Erzählerin, in den Zwiespalt gestellt zwischen der Aufklärung – der Erhellung des Geistes durch Vernunft – und der dürren Ratio, zu der die Aufklärung vielerorts geschrumpft ist, die als wahr nur nimmt, was errechen- und meßbar ist. Während die Naturwissenschaftler sich zu fragen begannen: Was ist es, was uns da ständig durch das Netz unserer immer genauer werdenden Meßmöglichkeiten schlüpft?
    Ulla Berkéwicz unterlegt ihren Bericht vom Sterben mit essayistischen Einschüben. Sie ist fasziniert von den neuesten Forschungen der Physiker, die sagen, für ihre jüngsten Fragen und Erkenntnisse fehle ihnen noch die Sprache. Die womöglich zahlreichen Dimensionen unseres Universums, die sie erahnen und die unser dreidimensionales Raum-Zeit-Verständnis weit hinter sich lassen würden, entziehen sich noch der Untersuchung und also auch der Benennung. Unsere fünf Sinne, so lieb und so unverzichtbar sie uns sind, bilden nicht zuverlässig und gewiß nicht vollständig ab, was ist. Daß die Welt der Sinnesempfindungen nicht die einzige Welt ist; daß es noch andere Welten geben mag, Antiwelten, sagt man schon versuchsweise, »dunkle Materie« – das sollte nicht nur die Physiker, das sollte
auch die Literaten beunruhigen. Daß »die Welt nicht alles ist, was der Fall ist«. Die Kräfte aber, die wir nicht messen noch berechnen können, walten weiter.
    Diese Kräfte mit ihren Mitteln zu erfassen ist das eigentliche Anliegen der Erzählerin. Nachts, wenn ihr bang ist, fragt sie sich: Ob ihre »Erfindungen Wirklichkeit ergaben, und für wen«.
    Dieses Buch ist ein Totenbuch. Nicht, indem es wie die Totenbücher der alten Ägypter Schriften und Bilder sammelt, um sie den Toten ins Grab zu legen, damit sie wüßten, was sie den verschiedenen Göttern und Dämonen, denen sie begegnen würden, zu sagen hätten. Sondern indem sie es ihren, der Erzählerin, Toten widmet.
    »Der Tod hat es mir angetan, von meinem Anfang an«, sagt sie. Nicht, weil sie todessüchtig wäre. Im Gegenteil, sie ist lebenssüchtig und empfindet den Tod als ein Verhängnis, als etwas Ungeheuerliches, dem sie nicht ausweichen kann, dem sie sich stellen muß. Ihr erstes Buch heißt Josef stirbt , da erzählt sie zum ersten Mal vom Sterben eines Menschen, eines alten Bauern, dem sie beiwohnt. Sie sieht hin. Sie sieht und benennt jede Einzelheit, alle die schamlosen Äußerungen und Anstrengungen des Körpers, die zum Tode führen und vor denen ein anderer wohl lieber die Augen verschlossen hätte. Da stellt sie zum ersten Mal die Frage: Wo gehen wir denn hin, wenn wir sterben?
    Dieses Buch heißt Überlebnis . Das Wort kommt einmal im Text vor: Der Vater hat ihr erzählt, wie er in einer »Nazinacht« mit einer jüdischen Pianistin am Klavier Bach gespielt habe, die

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