Rede, dass ich dich sehe
wurde. Und damit war die Gegend protestantisch, es gab nur wenige Katholiken. Und vor den Katholiken solle man sich hüten, wurde uns immer gesagt, die seien falsch. Als das Datum meiner Konfirmation näher rückte, mußte ich vorher natürlich den Konfirmandenunterricht besuchen – bei einem Pfarrer, den ich verabscheute und der uns anscheinend auch verabscheute. Deshalb wollte ich eigentlich überhaupt nicht konfirmiert werden, aber meine Mutter meinte, das könnten wir der Oma nicht antun.
ZEIT : Und nach der Konfirmation …
Wolf: … da war das Thema Religion erst mal für mich erledigt. Nach dem Krieg, als alles, woran ich geglaubt hatte, zusammengebrochen war, habe ich intensiv nach einem neuen Glauben gesucht, zunächst in der Kirche. Später – ach, wissen Sie, es gab einfach zu vieles, was mir nicht einleuchtete: die unbefleckte Empfängnis Marias zum Beispiel oder die Auferstehung von den Toten. Das erschien mir zu irrational.
ZEIT : Einer Ihrer langjährigen Freunde ist Max Frisch gewesen. Wie haben Sie ihn kennengelernt?
Wolf: Bei einer mehrtägigen Dampferfahrt auf der Wolga, 1968. Eine Veranstaltung zu Ehren von Maxim Gorkij. Künstler aus aller Welt waren dazu eingeladen. Ich weiß noch gut, wie Max Frisch auf mich zukam und sich mir vorstellte. Er rechnete offenbar damit, daß auch Ingeborg Bachmann an Bord sei; wie sich herausstellte, war sie aber nicht gekommen. Ich habe das zu jener Zeit gar nicht richtig verstanden, die persönliche Geschichte der beiden kannte ich nicht. Wie ich später erfuhr, wäre es die erste Begegnung nach ihrer Trennung gewesen.
ZEIT : Also ging es recht harmonisch zu?
Wolf: Ja und nein. Auf dem Schiff fanden Seminare und Veranstaltungen statt, vor denen mein Mann und ich uns oft gedrückt haben. Wir standen meistens an der Reling, abends saßen wir mit Max Frisch, tranken Wodka und sagten uns unsere
unterschiedlichen Meinungen. Irgendwann haben wir dann auch gestritten. Am Morgen kam Frisch einmal auf uns zu und fragte: Reden wir eigentlich noch miteinander?
ZEIT : Worum ging der Streit?
Wolf: Wir fanden, daß der Sozialismus schon die bessere, die zukunftsweisende Lebensform sei, trotz aller Fehler. Und Frisch hat diese Fehler zum Thema gemacht, das fanden wir spießig. Als Jahre später Willy Brandt wegen Guillaume zurücktrat, waren wir gerade in den USA , in Ohio, und Frisch rief aus New York an. Er beschimpfte uns regelrecht, nach dem Motto: Wir Ostler hätten den Spion geschickt, seien damit schuld an Brandts Ende. Schließlich bot er uns aber an, seine Wohnung in New York zu nutzen. Max Frisch ist mir sehr nahe gewesen, gerade in seiner Schonungslosigkeit und Widersprüchlichkeit. Ich mochte ihn sehr. Nach der Biermann-Ausbürgerung, als wir in einer schwierigen Lage waren, kam er uns besuchen, das haben wir ihm nicht vergessen.
ZEIT : Nach seinem Tod haben Sie geschrieben: »Ein Posten ist vakant.« Konnte ihn jemand inzwischen besetzen?
Wolf: So beginnt ja die letzte Strophe in Heines Gedicht Enfant perdu. Das fängt an: »Verlorner Posten in dem Freiheitskriege …« So spricht heute niemand mehr. Ich glaube, es gibt diesen »Posten« nicht einmal mehr. Die Zeiten und die Ziele haben sich geändert.
ZEIT : Frau Wolf, neulich sorgte eine Frau in Brandenburg für Schlagzeilen, die neun ihrer Babys umgebracht und verscharrt haben soll. Der Kabarettist Harald Schmidt sagte, als er das gehört habe, habe er es sofort ausgeblendet, »das lasse ich gar nicht an mich heran«.
Wolf: Ich mache es genau umgekehrt. Ich beschäftige mich intensiv damit. Ich will alles darüber wissen; jeden Artikel, den ich dazu finde, lese ich, alle Hintergrundberichte darüber, warum Frauen Kinder töten. Erst dachte ich, das wird sicher eine arme Schwachsinnige sein. Aber der Fall scheint ja anders zu liegen. Mich interessiert die Schnittstelle, an der subjektives pa
thologisches Handeln und die Pathologie der Gesellschaft sich berühren, vielleicht gegenseitig bedingen.
ZEIT : Könnte Sie ein solcher Stoff schriftstellerisch reizen?
Wolf: Nein. Ich wäre nicht imstande, psychopathische Figuren zu beschreiben.
ZEIT : Aus Angst?
Wolf: Wissen Sie, ich lese anfallsweise gerne Krimis mit psychologischem Tiefgang. Erst gerade habe ich einen sehr guten von P. D. James gelesen. Manchmal sagen meine Enkel, schreib doch mal selbst einen Krimi. Da hab ich gedacht, warum eigentlich nicht? Aber es geht nicht. Man müßte ja einen
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