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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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vorher kritisch gewesen waren, hatten sie jetzt den Eindruck, daß ihr Leben, so wie es verlaufen war, gut und richtig war. Dieses Gefühl wurde von den DDR -Bürgern in Frage gestellt – beiden Seiten ganz unbewußt –, und das rief Aggressionen hervor.
    BZ :  War die Mephisto-Frage nicht schon deshalb unklärbar, weil Ulbricht der Mephisto war?
    Wolf:  Ach nein. Dazu war er zu banal. Dem Mephisto billige ich doch ein bißchen mehr Tiefe zu.
    BZ :  Hannah Arendt hatte keine Probleme mit der »Banalität des Bösen«.
    Wolf:  Darüber müßte man lange sprechen, aber ich glaube nicht, daß Walter Ulbricht die Verkörperung »des Bösen«, nicht einmal der Banalität des Bösen war. Da müßte schon ein anderes Kaliber kommen. Es war doch vor allem diese Trivialität der Ansprüche, die an uns herangetragen wurden, die uns opponieren ließen. Aber gerade aus dieser Reibung heraus ist eine ganz interessante Literatur in der DDR entstanden. Die Autoren mußten sich behaupten. Dazu mußte man auch von sich selber eine ganze Menge wissen. Man konnte sich nicht einfach drücken, vor den anderen nicht und nicht vor sich selbst. Es war anstrengend.
    Die Generation der heute Dreißigjährigen ist im Laufe der letzten zwei Jahre aus einer ziemlich heilen Welt herauskatapul
tiert worden in die Realität der Arbeitslosigkeit. Das sollte bei ihnen zu der Erfahrung führen, daß sich nicht einfach so là là dahinschreiben läßt. Es sollte zu Reibungen führen und vielleicht zu einer interessanten Literatur.
    BZ :  In Ein Tag im Jahr schreiben Sie, wann immer Sie Auto fahren, überkommt Sie die Lust zu singen. Musik spielt, so lernt der Leser, eine große Rolle in Ihrem Leben. Auch beim Schreiben?
    Wolf:  Beim Schreiben höre ich keine Musik. Das würde mich zu sehr ablenken.
    BZ :  Wenn Sie nach dem »Ton« suchen, spielt Musik auch keine Rolle?
    Wolf:  Nein, jedenfalls keine bewußte.
    BZ :  Sie haben niemals versucht, einer Erzählung eine musikalische Form zu geben?
    Wolf:  Ich habe einmal einen meditativen Text für Joseph Haydns Missa in tempore belli geschrieben und ein Szenarium zu einem Medea-Oratorium, das Georg Katzer in Musik gesetzt hat. Aber ich bin nicht sehr bewandert in Musik. Ich habe Vokalmusik sehr gerne. Ich kenne unzählig viele Lieder. Ich singe sie gerne.
    BZ :  Hören Sie Ihre Sätze ab?
    Wolf:  O ja. Ja, ja. Gerade bei Kassandra , da ist dann ein Rhythmus hereingekommen, und nach ihm wurden die Sätze gebaut. Auch bei Kein Ort. Nirgends . Bei den kürzeren Texten spielt das eine ganz wichtige Rolle. Da achtet es – nicht ich – sehr darauf.
    BZ :  Nicht bei der Komposition des Ganzen?
    Wolf:  Nein. Bei den Sätzen. Ich mache mir vorausschauend Notizen, Konstruktionen, auch, wo erforderlich, Kapitelüberschriften, aber sonst schreibe ich hintereinander weg. Ein Wort gibt das nächste, ein Satz den nächsten.
    BZ :  Haben Sie die Aufzeichnungen in Ein Tag im Jahr bearbeitet?
    Wolf:  Nicht »bearbeitet«. Ich habe einiges gestrichen, was
Personen angeht. Nicht so viel, wie man denken sollte. Ich habe mich allerdings gehütet, Fehleinschätzungen, Dummheiten meinerseits nachträglich zu verbessern oder etwa ganz zu streichen. Das hätte das Buch zerstört. Es ist ja gerade auch als Dokument dieser Irrtümer interessant. Es soll ja vor allem authentisch sein. Sonst hätte es keinen Sinn. Aber eine Redaktion habe ich schon vorgenommen.
    BZ :  Mir sind an dem Buch weniger Ihre Irrtümer aufgefallen als die Tatsache, daß Sie von der ersten Eintragung an im Clinch mit der DDR waren. Sie sind dennoch dort geblieben. Warum?
    Wolf:  Es gibt ein Motiv, das ich erst sehr spät erkannte. Ich hatte die Erfahrung der Flucht, der Austreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie hatte viel tiefer gewirkt, als ich mir das über Jahre eingestanden habe. Sie hat, glaube ich heute, eine zweite Flucht für mich schwieriger gemacht. Das andere Motiv: Der Schock über das, was wir Deutschen während des Nationalsozialismus angerichtet hatten – in der Welt und in Deutschland –, brachte die Überzeugung hervor, jetzt mußte etwas absolut anderes beginnen. Das schien mir und vielen meiner Generation sich in der DDR anzubahnen. Für mich war die DDR der Teil Deutschlands, der am radikalsten mit der NS -Vergangenheit gebrochen hatte. Hier lebten und regierten Antifaschisten. Und der Marxismus in seiner vernünftigen Rationalität war ja auch die Gegen-Idee zu dem Irrationalismus der

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