Rede, dass ich dich sehe
Nazi-Ideologie. Wir hielten ihn für absolut richtig. Den Dogmatismus zu durchschauen, in den er verfälscht wurde, kostete Jahre. Als wir merkten, daß das Humanum, um das es ja in der Literatur geht, in der Gesellschaft immer mehr zurückgedrängt und verletzt wurde, da wurden wir sehr kritisch, und da wurde es sehr kritisch für uns. Wir hatten nur überhaupt nicht den Eindruck, daß unsere Lage in der Bundesrepublik »besser« gewesen wäre.
BZ : Haben Sie mit Leuten aus dem Westen darüber gesprochen?
Wolf: Heinrich Böll zum Beispiel, mit dem ich mehrmals darüber sprach, der ja eine sehr kritische Haltung gegenüber der DDR hatte, hätte mir immer davon abgeraten, wegzugehen. Ich hatte von einem bestimmten Zeitpunkt an das Gefühl – das ist in Kein Ort. Nirgends ausgedrückt –, keine Alternative zu haben. Ich fühlte mich mit dem Rücken an der Wand. Da war es dann doch richtig, dort zu bleiben, wo ich die Menschen und die Konflikte kannte. Nach der Biermann-Ausbürgerung und den ihr folgenden Auseinandersetzungen kam es nach ernsten Zweifeln bei mir zu dem bewußten, festen Entschluß zu bleiben. Ich wollte unabhängig schreiben, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit, veröffentlicht zu werden oder nicht. Das wurde Kassandra . Ich war gespannt, ob unsere Oberen das Gleichnis Troja, dessen Untergang, erkennen würden. Das konnten sie nicht. Die Erzählung wurde veröffentlicht. Bei den Vorlesungen zu Kassandra gab es dann ein paar Streichungen. Da konnte ich durchsetzen, daß die mit eckigen Klammern und Pünktchen markiert wurden. Wir waren keine Einzelkämpfer. Es war immer eine Gruppe von Freunden und Kollegen. Wir verständigten uns untereinander, und wir hatten immer das Gefühl, wir werden hier gebraucht.
BZ : Ich war in Frankfurt/Main, als Sie 1982 dort die Kassandra -Vorlesungen hielten. Wenn Sie das Gefühl brauchten, gebraucht zu werden – Sie hätten es auch dort haben können.
Wolf: Das war das Eigenartige. Kassandra hatte in der DDR und in der Bundesrepublik diese ganz besondere Resonanz mit unterschiedlichen Akzenten. Bei uns ging es vor allem um die Friedensströmung in dem Buch und um die kritische Stimme gegenüber der Obrigkeit. Im Westen ging es vor allem um die Frauenemanzipation.
BZ : Sie waren damals »Kult«. Selbst die größten Hörsäle waren zu klein für Ihr Publikum.
Wolf: Mir machte das auch angst. Da werden einem so viele Erwartungen entgegengebracht. Man spürt das, und man weiß, daß man diese Erwartungen unmöglich erfüllen kann.
BZ : Sie wissen nicht, was die Hörerinnen wollten?
Wolf: Leser, also auch Sie und ich, suchen eine Identifikationsmöglichkeit. Wenn man Objekt solcher Sehnsüchte ist, sollte man das so schnell wie möglich vergessen. Man darf das nicht an sich heranlassen, schon gar nicht darf man glauben, man sei auch nur ein Tausendstel so großartig, wie diese hörenden Massen einen – für ein paar Augenblicke – wahrnehmen. Meine Texte sind doch sehr rational. Auch Kassandra basiert auf historischen Recherchen. Ich hasse alles Verschwommene und Mystische. Von daher bediene ich ja gerade solche Bedürfnisse nicht.
BZ : Vielleicht lag es an dem Pathos der Kassandra . Da sprach eine Frau aus dreitausend Jahren Entfernung direkt zu ihren Schwestern. Die Frauenbewegung lebte auch von dem Bewußtsein, mit Jahrtausenden Patriarchat zu brechen. Dieses Pathos des Bruchs mit der bisherigen Weltgeschichte war doch auch für Sie verlockend. Der Sozialismus hatte Ähnliches versprochen.
Wolf: Ja sicher. Man kann das heute wieder bei jungen Leuten bei den Studentenstreiks beobachten. Auch da gibt es einige, die nicht nur die Studienbedingungen ändern wollen, sondern die Welt überhaupt, das Ganze. Zwanzigjährige sollten das doch mal denken können und sich dafür einsetzen. Wenn sie nicht auf Dauer abheben von der Realität. Aber was ist »Realität«? Realität ist für sie eine Gesellschaft, in der es nur auf Konsum und Effizienz ankommt. Soll das für einen Zwanzigjährigen eine Perspektive sein?
BZ : Ist es eine für eine fast Fünfundsiebzigjährige?
Wolf: Absolut nicht.
BZ : Für wen ist es eine?
Wolf: Ich hoffe, für niemanden. Aber ganze Generationen leben das. Das wissen die Zwanzigjährigen noch nicht. Das können und sollen sie auch noch nicht wissen. Das lehrt der holprige, schwierige Weg des Lebens, den man auch Reife nennen könnte. Aber dagegen geht Literatur an.
BZ : Schönheit wird immer
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