Rede, dass ich dich sehe
Mord als Ausgangspunkt haben, sonst funktioniert es nicht. Aber ich kann keinen Mord beschreiben, ich kann keinen Menschen beschreiben, der mordet. Schon als Kind hatte ich große Angst vor körperlicher Verletzung. Ich glaube, ich versuche dieses völlig Irrationale, was teilweise unsere Welt beherrscht, zurückzudrängen, besonders durch mein Schreiben. Ich versuche, einen Raum zu erzeugen, in dem das Irrationale, wenn es Macht hat, wie in Kassandra und Medea, durch, ja: humane Werte ein Gegengewicht bekommt.
ZEIT : Glauben Sie, daß die Macht des Irrationalen in unserer Zeit zunimmt?
Wolf: Ich fürchte das. Auch mit der wild wuchernden Technik und weltweiten Vernetzung scheint mir die Macht von Systemen zu wachsen, die sich verselbständigen, in denen nicht mehr klar zu bestimmen ist, welche Menschen die Verantwortung tragen. Rationale Gegengewichte, zum Beispiel eben die Demokratie, scheinen ausgehöhlt zu werden und an Einfluß zu verlieren. Das ist nicht nur bedauerlich, man kann sich schon davor fürchten, was da auf unsere Enkelgeneration zukommt.
ZEIT : Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm sagte, der neunfache Babymord werfe neuerlich die Frage auf, ob die proletarische Erziehung der DDR die Menschen im Osten nicht verroht habe. Waren Sie empört, als Sie das hörten?
Wolf: Richtig böse war ich nicht, ich hab auch nicht gelächelt, meine Reaktion liegt irgendwo dazwischen. Eigentlich ist es für mich eher eine Bestätigung, daß Menschen wie Schönbohm eben so denken, nur daß sie es jetzt auch äußern. Ich hätte Schönbohm und auch Herrn Stoiber für klüger und geschickter gehalten, bei ihrer politischen Erfahrung, noch dazu vor Wahlen. Es muß ihnen also schon ein großes Bedürfnis gewesen sein, sich so zu äußern.
ZEIT : Was ist das Unangenehmste an diesen Äußerungen?
Wolf: Durch die materiellen Auswirkungen der deutschen Einheit, vor allem natürlich durch die hohe Arbeitslosigkeit, gibt es dieses Gefühl bei vielen Menschen im Osten: Wir sind die Unterlegenen, und, das ist wichtig, die Leute im Westen sehen uns auch als Unterlegene an und auf uns herab. Deshalb sind die Aussprüche von Stoiber und Schönbohm so katastrophal, weil sie genau auf dieses Gefühl noch draufhauen und es weiter befestigen.
ZEIT : Jetzt sitzt eine neue Partei im Parlament, die Linke mit Gregor Gysi und Oskar Lafontaine. Für Sie ein Anlaß zur Hoffnung?
Wolf: Hoffnung ist zuviel gesagt, aber ich verstehe, warum im Osten diese Partei einen solch großen Zulauf hat, das hängt mit allem zusammen, was wir eben besprochen haben, vor allem mit der sozialen Lage vieler Menschen im Osten. Ich halte auch eine Kraft links von der SPD im Parlament für wichtig. Für genauso wichtig halte ich außerparlamentarische kritische Bewegungen.
ZEIT : Sie haben ein Haus auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern. Wie erleben Sie dort den Alltag fünfzehn Jahre nach der Deutschen Einheit?
Wolf: Es sind viele Leute weggegangen, vor allem jüngere, in erster Linie wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten. Abgesehen von einigen Zentren kann man denken: Das Land läuft aus. Die neu hinzukommen und die leer gewordenen Häuser kaufen, sind Städter, die am Wochenende aufs Land fahren. Deshalb
sieht man auf der Dorfstraße wieder kleine Kinder, was lange Zeit nicht der Fall war. Es stimmt, daß auf dem Land viel getrunken wird und daß die Älteren in der Überzahl sind. Aber es ist trotzdem kein trostloses Lebensgefühl. Es gibt Gruppen von jungen und mittelalten Leuten, die entschlossen sind, ihr Leben nicht zu verdröhnen. Die haben Pläne, die sie erfindungsreich und mit großem persönlichen Einsatz in die Tat umsetzen – und sei es die Restaurierung einer Kulturscheune. Ermutigend ist: Diese Aktivitäten kommen »von unten«. Übrigens: Gar nicht so wenige Westdeutsche, die zugezogen sind, sind daran beteiligt.
ZEIT : Gab es in den beiden Teilen Deutschlands überhaupt dieses Interesse an dem jeweils anderen Land?
Wolf: Natürlich gab es das bei vielen Menschen auf beiden Seiten. In meinem Freundeskreis sind in den letzten Jahren fast nur Wessis hinzugekommen. Aber was die Länder im ganzen betrifft, muß man klar sagen: Nein, dieses Interesse gab es nicht. Es gab vom Westen her kein Bedürfnis, von den anderen, von uns, zu lernen. Man war zu überlegen. Man kennt einander bis heute nicht.
ZEIT : Sind Sie in Ihrem Dorf so eine Art heimliche Bürgermeisterin?
Wolf: Um Gottes willen,
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