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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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wieder erwähnt in Ein Tag im Jahr . Was ist Schönheit für Sie?
    Wolf:  Sie spielt eine zentrale Rolle in meinem Leben. Ich sitze stundenlang vor unserem Haus in Mecklenburg und sehe die Wiesen, die Bäume, dann die Sonne untergehen und alles grau und dunkel werden. Wir haben eine große Platane vor dem Haus stehen. Ich sehe sie gerne an, mit all ihren Ästen, Zweigen und Blättern: Sie ist schön. Ich könnte wohl nicht lange leben, nur von Häßlichem umgeben. Aber Schönheit ist für mich etwas anderes, als man mir im Fernsehen und in den Zeitschriften einreden will. Ich fand Anna Seghers – auch, ja vor allem, die alte Anna Seghers – eine schöne Frau. Man will uns ja einreden, jemand sei desto schöner, je weniger Spuren das Leben in ihm hinterlassen hat. Aber die Schönheit, die ich bewundere, ist die Schönheit des Lebens und nicht die, aus der das Leben getilgt wurde. Neulich nacht habe ich mir wieder einmal Casablanca angesehen. Ingrid Bergman, wenn sie unter ihrem Hut die Augen aufschlägt, ist wirklich sehr schön, und Humphrey Bogart ist auch sehr reizvoll. Ich liebe diese Männer, die nach außen zynisch sind und bei denen darunter das große Sentiment steckt, das dann auch zum Ausdruck kommt. Aber viel schöner als Bogart und Bergman war das Zusammenspiel der beiden. Das habe ich genossen, auch wenn es die Züge einer Schmonzette hat.
    BZ :  Achten Sie darauf, schön zu schreiben?
    Wolf:  Ich will nicht »Schönheit« erreichen. Erreichen möchte ich, daß in einem Text kein Wort überflüssig ist, kein Wort fehlt und jedes Wort an seiner Stelle steht. Keines darf austauschbar sein. So etwas geht nur bei kürzeren Texten. Bei Kassandra ging das. Nicht, daß ich denke, das sei der großartigste aller Texte, aber wenn ich ihn heute lese, stimmt alles. Es ist nichts zu korrigieren daran. Der Rhythmus hat die Wörter an die richtige Stelle gerückt, und er hat die richtigen Wörter aus der Autorin hervorgelockt. Bei längeren Texten wie zum Beispiel Kindheitsmuster ist das anders. Bei den kürzeren Tex
ten arbeite ich an den Sätzen, an den Wörtern, bis ich sie so habe, daß sie nicht mehr anders zu denken sind. Ich sage nicht, daß das immer gelingt, aber das ist mein Ziel. Auch bei Leibhaftig . Da war es mir besonders wichtig, auch besonders nötig. Denn in Leibhaftig gibt es die ganz realistischen, mit technischen Realien angefüllten Passagen und dann diese Öffnung zur anderen Welt. Das auch mir sonst Verborgene konnte ich nur zeigen durch die sorgfältigste, genaueste Beschreibung physischer Zustände und Vorgänge. Da spielten die Bilder eine wichtige Rolle. Ich habe viel visualisiert in Leibhaftig . Wie beschreibt man Todesnähe? Kann das »schön« sein? »Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang …«?
    BZ :  Sie haben diesen Schrecken mit großer, mit erschreckender Schönheit beschworen.
     
    2004

»Bei mir dauert alles sehr lange«
    Gespräch mit Hanns-Bruno Kammertöns und Stephan Lebert
    DIE ZEIT :  Wie beurteilen Sie die Bundestagswahlen?
    Christa Wolf:  Ich finde, dieses Wahlergebnis porträtiert das Land, wie es sich im Augenblick selbst sieht: Die Deutschen sind ratlos.
    ZEIT :  Sie schreiben seit vielen Jahren immer am 27. September ein ausführliches Tagesprotokoll. Was haben Sie diesmal notiert? Ist es wegen der Wahl besonders politisch ausgefallen?
    Wolf:  Seien Sie nicht so neugierig! Ich habe Zeitung gelesen und habe mich mit politischen Meldungen auseinandergesetzt, besonders mit denen, die den Ausgang der Wahlen betreffen, der mir ziemlich genau der Lage zu entsprechen scheint, in der dieses Land sich befindet: matt gesetzt.
    ZEIT :  Frau Wolf, wir bleiben neugierig. Auf dem Regal neben Ihrem Schreibtisch steht ein Foto von Heinrich Böll. Haben Sie verstanden, warum sich Böll ein Leben lang an der Bergpredigt orientiert hat?
    Wolf:  Absolut. Böll hat zu mir gesagt, wer einmal Katholik war und wer einmal Kommunist war, der wird das nie wieder los.
    ZEIT :  Sagte er das mit dem Unterton des Bedauerns?
    Wolf:  Nein. Als einfache Feststellung.
    ZEIT :  Sind Sie, sei es auch nur von ferne, ein religiöser Mensch?
    Wolf:  Nein, wenn damit eine Kirchenreligion gemeint ist.
    ZEIT :  Nie versucht gewesen, es zu sein, auch nicht in Krisensituationen?
    Wolf:  Doch, doch. Man sucht schon. Ich bin in einem El
ternhaus aufgewachsen, das nicht religiös war. Meine Heimatstadt Landsberg liegt ja in der Neumark, die vom Alten Fritz kolonisiert

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