Regeln des lächerlichen Benehmens (German Edition)
zwängt sich meine Schwester mit blassgrauem Gesicht in einen Kittel. Sie kommt mich ablösen. Sie seufzt, putzt sich mit einer Serviette die Nase, kramt in ihrer Tasche, guckt auf ihr Handy.
Ich begrüße sie mit einem Nicken.
„Oder dieses eine Foto von der Mitchell, die über die verschneiten Alpen fliegt“, flüstere ich. „Mit dem Schriftzug über den ganzen Flügel:
FINITO BENITO, NEXT HIROHITO!
So ein Haiku wäre einem Russen oder einem Deutschen im Leben nicht eingefallen. Humor ist keine Laune, sondern eine Weltanschauung, hat Ludwig Wittgenstein 1948 geschrieben.“
Meine Schwester zieht sich die Stiefel aus, sie ächzt, der Reißverschluss klemmt, sie kommt über ihren Bauch nicht ran. Ich habe noch eine Minute.
„Es ist fantastisch, wenn man die einzelnen Konstruktionsschulen miteinander vergleicht“, sage ich. „Von den Briten, den Russen, den Amis – da siehst du ganz genau, wer da was bei wem geklaut hat. In dieser Hinsicht sind die Chinesen am interessantesten. Lizenzfreies Flickwerk aus allen möglichen Typen, spartanisch vereinfacht, schief, pseudo-aufgetunte gottlose Monster. Struppiges Laminat, grobe rostige Kanonen ohne Mündungsbremse. Du siehst das und weißt nicht, ob du lachen oder dich fürchten sollst. Na ja, Iva ist hier. Ich fahr auf Arbeit, alles Mist, die Geschäfte laufen nicht. Also, mach’s gut und schlaf ruhig, ich komm wieder.“
„Nimm mich bitte mal in den Arm“, sagt meine Schwester.
Ich umarme sie kurz.
„Ist er wach?“, fragt sie.
„Nein.“
„Phu, mir ist blümerant.“
„Soll ich mit hier bleiben?“
„Geh lieber.“
„Also, dann geh ich.“
„Geh.“
11 ZU BEGINN MEINES NÄCHSTEN BESUCHS VERKÜNDET MIR DER ARZT, DASS ES ZEIT SEI, SICH VORZUBEREITEN. Das Bewusstsein zeige eine Null-Aktivität. Er fühle nichts, denke nichts, wisse nichts. Der Körper existiere zwar noch, aber „der Herr Doktor“ praktisch nicht mehr. Trotzdem empfehle er mir, anwesend zu sein, wenn es so weit ist. Er sei überzeugt, dass das sinnvoll ist. Er verspricht, mir rechtzeitig Bescheid zu geben. Drei, vier Tage.
Ich schaue auf seinen Kragen und nicke.
Dann gehe ich zurück und setzte mich auf meinen Platz am Bett.
„In letzter Zeit finden bei mir auch die völlig verschweißten Foxhound-Maschinen Gnade, die Tu-22 und die F-14“, sage ich. „Kaum fangen die nämlich an, die auszumustern, werden rückwirkend wieder Legenden draus. Da tauchen dreißig Jahre alte Fotos von Tests auf, auseinandergenommene Skelette, Motoren, Konstruktionsknoten. Auf einmal siehst du, wie diese grobschlächtigen Zugtiere entstanden sind. Das Ganze trägt die Zeichen von ewigem Versuchen und Irrtümern. Die Schufterei, bis man’s schafft, entweichendem Treibstoff, einem Verdichterpumpen oder einem Flattern der Maschine auf die Spur zu kommen. Bis das Power und Durchhaltevermögen hat, damit es nicht irgendwo über Damaskus abschmiert. Ein teurer Spaß, Fly-by-wire-Steuerung, vektorierbare Düsen, Supercruise, intelligente Munition, alles Stealth und alles zu wenig.“
Papa röchelt ganz zart. Ich halte seine Hand. Irgendwo hier hängt ein Schild, dass Besucher gebeten werden, die Patienten nicht zu berühren. Puchvaldek hingegen propagiert das, da soll sich einer auskennen.
„Vielleicht denkst du dir, dass ich in den fünfzig Jahren keinen Schritt weiter gekommen bin“, flüstere ich. „Aber das stimmt nicht – ich sehe die Dinge aus einem ganz neuen, viel interessanteren Blickwinkel. Zumindest erfahre ich, dass diese Welt nicht die einzige ist, dass es eine Menge von Welten gibt. Sogar am selben Ort zur selben Zeit existieren mehrere. Fakt ist, der praktische Output ist gleich Null, das interessiert keinen. Meine Bekannten sind voll von ihren eigenen Entdeckungen. Und mein lieber Sohn, dein Enkel? Der gondelt durch Europa und erpresst mit Hilfe seines gespaltenen Egos, das er von mir hat, reiche ältere Damen. Er ist zu einem Euro-Gigolo geworden. Einmal im Jahr lässt er von sich hören. Der scheißt auf mich, so wie ich auf dich geschissen hab.“
Puchvaldek nickt aus der Ferne. Dieser bewundernswerte Filou mit den großen Ohren, dieser gebildete Werwolf mit dem Topfschnitt. Dieser Lokalmandarin, der sichtlich von irgendetwas hier abhängig ist. Mit einem Magnetpol würden hier sicher Wunder geschehen.
„Eine Sache kommt mir komisch vor“, zischle ich. „Jede Weihnachten verteile ich einen Haufen Geschenke, und selber krieg ich nur ein, zwei. Zum Geburtstag gratulieren
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