Regeln des lächerlichen Benehmens (German Edition)

Angelegenheiten reden.
    8 ICH HOCKE ALSO AUF EINEM STUHL NEBEN DEM BETT UND REDE. Nachdem die gängigen Themen erschöpft sind, weiß ich nicht weiter. In meiner Hosentasche spüre ich den Druck des kantigen USB-Sticks voll mit Fotos, Dokumenten, Clips, Verträgen. Also erzähle ich davon. Ich beschreibe meinem Vater den Inhalt meines Archivs. Ich lobe die planetarischen Nebel IC 418, NGC 7293, IC 4406, NGC 6543, rühme den V838 Monocerotis, das Herz der Leere, den melancholischen Gral, bei dem schwächere Naturelle leicht kollabieren.
    Stämmige Kerle mit wulstigen Nacken stoßen mit Halbliterkrügen an. Inzwischen sind wir in einem Münchner Bierkeller, dreimal hoch! Ganze Tische prosten sich zu, Gamsbärte ragen aus dem Tabaknebel, 1955. Durch den Rauch bahnt sich eine Frau in einem Herrenmantel ihren Weg, auf dem Kopf einen zornigen Hahnenkamm, wahrscheinlich sucht sie wen.
    Monte Cassino, 1944 – zwei Mönche schöpfen zwei verlegenen Amis Suppe in den Teller. Aus dem Schummerlicht der Küche lächeln die beiden Lasterbuben den Soldaten zu. Der großäugige junge Bursche mit den Apfelbäckchen zeigt flinke Zähne, und der alte, erfahrene Iltis mit dem gigantischen Hintern unter der Kutte schneidet vom Herd aus Grimassen über die Schulter.
    Was noch. Ein echter indischer Fakir im Dornengestrüpp. Japanische Hippies. Ein tanzender, hundertjähriger Georgier. Galaxienkollisionen, auf Hühnern reitende Zwerge, das Turiner Grabtuch mit dem Abdruck eines Faultiers, pulverisiertes Katzenherz.
    Was noch. Eine gutaussehende Brünette mit schwarzer Reithose und einem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln zerrt mit Haut bespannte Gerippe von einem Lastwagen. Auf einem anderen Foto schmeißt die Schöne unter Aufsicht eines entsetzten alliierten Soldaten halb verweste Körper in eine Grube.
Anneliese Kohlmann, SS-Aufseherin, bekannt für extreme Brutalität, Mai 1945, Bergen-Belsen
, sagt die Bildunterschrift.
    „Diese kleinen Schweine sind die Allerschlimmsten“, flüstere ich. „Die Serienmörderin Durdić, Bonnie Parker oder diese Zwergin aus Abu Ghraib. Im Unterschied dazu ist Anneliese sympathisch, intelligentes Gesicht, lausbübischer Schneid. Offensichtlich mangelt es ihr nicht an Sinn für Humor, also das soll mir mal einer erklären.“
    In seiner Bewusstlosigkeit rülpst Papa lange und befreit.
    „Und Bope Mobinji, ha-haa“, kichere ich in meine Hand. „Den zu sehen hätte ich dir gewünscht! Den König der Kuba! Diesen schwarzen Monarchen, hinein gezwängt in einen Skaphander aus Löwenzähnen, Klauen, Federn, Münzen, Medaillen, Muscheln, Ohrringen und Kettchen. Sechs Zentner brutto. Er kann nicht aufstehen, geschweige denn laufen. An Füßen und Händen vergoldete Nägel. In einer Hand einen Speer, in der anderen einen Säbel. In den Augen ein unirdisch ruhiges Funkeln. Es bereitet ihm sichtlich keine Probleme, jemanden lebendig zu verspeisen. Auf einem anderen Foto sein Harem – fünfhundert stolze, zänkische Weiber, jede auf dem Bauch eine Tätowierung und auf dem Kopf einen Kürbis. Aufgenommen 1948 für das
LIFE
-Magazine. Im Moment arbeite ich die Vierzigerjahre ab.“
    „Was noch, Flugzeuge“, wispere ich dem gigantischen, blau verfärbten Greis ins Ohr. „Kein Wunder, das hast du mir ja auch meine ganze Kindheit über eingebläut. Ich wollte einen Vater, der mir Messerwerfen beibringt und wie man mit Murmeln spielt. Und stattdessen habe ich mir dauernd seinen endlosen Sermon darüber angehört, ob die Hawker Tempest, die Langnasen-Dora oder die Mustang H wendiger war. Nichts für ungut, keiner hat, was er will. Und wenn doch, dann weiß er es nicht zu schätzen, weil er nicht weiß, dass er was hat, was er gerne hätte, wenn er es nicht hätte. So. Also Flugzeuge habe ich hier auf dem Stick in Massen.“
    9 DR. PUCHVALDEK TOURT ATEMLOS DURCH SEINE ABTEILUNG. Er hat eine Tasse in der Hand, nimmt einen Schluck, dreht eine Runde, verschwindet hinter den Kulissen, gießt neu auf und erscheint mit der Tasse wieder auf der Szene. Eine klein geratene Rohrdommel unbestimmten Alters mit intelligentem Gesicht, das von einem abartigen Haarschnitt ergänzt wird. Jeder Zoll ein Enthusiast, Philanthrop, Teeinist, Sektierer.
    Säusler wie mich gibt es im Verabschiedungsraum noch mehr. Verwandte beugen sich ohne Unterlass über ihre armen Kranken. Sie ist bei ihm eingezogen, und das Bürschchen hat gleich seinen Job verloren. Wie kümmern sie sich denn hier um dich? Früher sind wir wenigstens noch ins Kino