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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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gewöhnt zu haben; er glaubt, nichts mehr befürchten zu müssen. Manchmal kommt ein schwer verständliches Mail von der Tänzerin und hält seine Erwartung am Leben. Er bereitet sich vor, soweit er sich eben vorbereiten kann, ohne irgendjemanden (die Tänzerin, den Mann im Haus am Stadtrand, an den er öfters denkt) um Rat fragen zu können. Auch wenn ihm nie ganz klar ist, was er sich davon verspricht: eine Begegnung außerhalb der Wirklichkeit: er denkt, darauf könnte er sein ganzes Leben lang gewartet haben. Er hat, in den Phasen, in denen er denkt wie ein erwachsener Mensch, den Moment von Unsicherheit im Kopf, den er an der drahtigen, sehnigen, in sich verschlossenen Frau mit ihrem harten jungen Gesicht und ihrem harten jungen Körper bei der ersten Begegnung im Kaffeehaus (oder eher im Nachhinein, zwischen der ersten und der zweiten Begegnung und dann wieder nach der zweiten Begegnung, bei der er wie irr und verzaubert war) wahrgenommen zu haben glaubt; das Weiche, Unkontrollierte, ein Fastnichts, das sie auch vor sich selbst verborgen hält; er denkt oder will hoffen oder will wahrgenommen haben, sie wäre jemand, der gleichzeitig jemand anderes ist: der seine Art sich zu bewegen ist, und die Art, unter seiner Art sich zu bewegen zu verschwinden; das Fastnichts, das in diesem Verschwinden erscheint, so muss man doch an jemanden denken, den man zu lieben glaubt, trotz allem zu lieben glaubt; vielleicht nur deshalb zu lieben glaubt, weil man sich vollkommen in ihm täuscht und jemanden lieben möchte, den man hinter den Bewegungen der wirklichen Person verborgen vermutet, den es aber nicht gibt. Allerdings liebt er diese Frau nicht und glaubt auch nicht, dass er jemals jemanden auf diese Art geliebt hat; höchstens hat ihn ein Blick, ein Strahlen erstaunt, noch mehr hat ihn erstaunt, dass es ihm gelten konnte. Als könnte jemand (jemand, der Pre war oder eine ihrer Vorgängerinnen) in ihm das erkannt haben, was er nun in der Frau erkennt, etwas unterhalb aller seiner Verlogenheit und Angst.
    Er liebt die Frau nicht, natürlich nicht, auch wenn er wie ein Teenager immerzu an sie oder an jemanden, der sie war, oder an jemanden, den sie darstellen kann, denkt. Doch dieses An-sie- (die Frau, das Mädchen) -Denken, dieser Moment von Unsicherheit, dieses Weiche, Verschwindende und seine Erwartung sind untrennbar miteinander verbunden. Und eine Art von Blick, die nur einem einzelnen Menschen gelten kann, soll allgemein werden, der Blick, der eine Existenz rechtfertigt, eine jede Existenz; jede Existenz, die im Spiel ist, die Lebenden und die Toten.
    Ein oder zwei Wochen vor der Vorstellung zieht er sich an mehreren Tagen einen diskreten Anzug an und fährt mit der U-Bahn in die Innenstadt, ganz gezielt. Seine Blicke sind frei; die meisten Menschen in seinem Waggon tragen Kopfhörer und reden mehr oder weniger leise vor sich hin oder sie sind durch weiße Kabel mit kleinen Maschinen verbunden, auf deren Bildschirme sie mit ihren Fingern tippen und tanzen, um Symbole oder Buchstaben zu verschieben, auf diese Weise bleiben sie Teil der Inszenierung, der für sie eingerichteten Inszenierung, die du nicht zu kennen brauchst, auch wenn sie selbst sie mit der ganzen Wirklichkeit verwechseln. Er geht stundenlang durch die engen alten Straßen rund um den Dom, manchmal glaubt er sie wie etwas früher bis ins Fleisch und die Knochen hinein Gekanntes wiederzuentdecken, dann durch die breiten Fußgängerzonen mit den Fußgängerzonenkonzernschildern und -schaufenstern auf beiden Seiten, die den Fußgängerzonenkonzernschildern und -schaufenstern in der ganzen Welt (oder der ganzen Welt mit Ausnahme der sogenannten gescheiterten Staaten) gleichen, schaut den Passanten in die Gesichter, seine Blicke sind frei. Er wundert sich und fragt sich, ob es das ist, was er gewollt hat; ob es etwas ist, das er sich erarbeitet hat: Leute, die ihm entgegenkommen, nicht nur zu den Geschäftszeiten, sondern auch morgens, wenn kaum jemand unterwegs ist, oder spätnachts, weichen ihm erst im letzten Moment aus; oder jemand (manchmal Touristen in Familien- und Freundesgruppen, manchmal Jugendliche oder junge Mütter mit Kinderwagen, einmal ein junger Mann mit dunkler Haut und großen verwirrten Augen, einmal eine der dick geschminkten alten Frauen mit Pelzhut, die jahrzehntelang die Cafés und Konditoreien der Stadt bewohnten, vielleicht eine letzte Überlebende) läuft von hinten in ihn hinein, entschuldigt sich dann kaum. Er spürt die fremden

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