Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
nicht festzuhalten.
Alle Nächte sind gleich, jede Nacht steigt er vom Baum und legt sich auf die Erde. Dann beginnen die Bäume mit ihm zu reden, die Blätter, die von den Bäumen herabgefallen sind, die toten Maulwürfe und Ameisen auf dem Boden; sobald sie tot sind, können die Ameisen und die Maulwürfe und selbst die faulenden Blätter reden, jedenfalls kann er ihre Stimmen hören, aber es ist schwer, ihre Erzählung zu erfassen, es ist unmöglich, in ein Gespräch zu kommen, er sehnt sich nur nach Ruhe. Die Nacht erscheint endlos. In den Träumen, in die er sich einschleicht (oder eher hineingesaugt wird), fühlt er sich nicht wohl, er verspricht, in die Nacht eines fremden Denkens hinein, es wieder rückgängig zu machen, aber wie will er das tun; und was hat er je anderes versucht, als rückgängig zu machen, alles rückgängig zu machen, wenn möglich, noch bevor es eingetreten ist; wenn er an seiner Zigarette zog, wollte er die Rauchwolke wieder in sich einsaugen, seine Blicke sollten sich in sein Inneres zurückwenden, die Akten, die er erledigte, sollten zu offenen Fällen werden. Die Kinder sollten Kinder bleiben, der Sommer ein Sommer, er wollte die Schatten daran hindern, sich zu bewegen, das Licht daran hindern, den Schatten aufzuessen, die Gedanken, die seinen und die seiner Lieben, sollten sich nicht von ihrem Ursprung entfernen. Und wann wäre ihm je etwas davon gelungen; und hat er je geahnt, wie fremd ihm das Denken der ihm nächsten Menschen ist; jeder Gedanke eines lebenden Menschen (falls das lebende Menschen sind) ein Hindernis, das ihm den Blick verstellt.
Er wollte nicht gefunden werden, aber natürlich hat man ihn gefunden; er wollte nur noch Blick sein, aber natürlich sieht er nichts mehr, es ist auch nichts zu sehen. Die Angst gewinnt im Lauf der Nacht, im Lauf jeder Nacht an Raum und Stärke. Er kann das Zittern weitergeben wie eine Erbschaft, to whom it may concern.
Damals, als ein Foto noch etwas wert war, konnte dieser Mann die Wirklichkeit wegfotografieren (weg wohin?).
Sie schaut auf die Fotos, die der Mann, der sie aufgenommen hat, niemals gesehen hat und offenbar niemals sehen wollte; diese Bilder zeigen nicht ihre Vergangenheit und nichts, woran sie sich erinnert. Niemand würde diese Mädchen wiedererkennen, niemand kann sie auseinanderhalten. Diese Idylle, dieses Aufgehen im Licht und in der Vegetation hat es niemals gegeben, sie erinnert sich an die langen Sommernachmittage, die Langeweile der Sommernachmittage, das Gefühl des Eingesperrtseins, das Gefühl, das für sie Familie bedeutet hat, für sie beide. Sie sieht die Idylle, die es ohne die Fotos, ohne den Blick hinter diesen Fotos nicht geben würde, es hat nichts gegeben als die nervösen Körper von ins Familiendasein versperrten Heranwachsenden, als einen Weg an den anderen Gärten vorbei in die Ortschaft, zum Bahnhof, einen Weg am Bach entlang in den Wald, einen zu langen, quälenden, nichtssagenden, zu selten gegangenen Weg.
Warum tut es weh, sich daran zu erinnern; warum tut der Schmerz so, als hätte es die Idylle, die ihr Vater sich einbildete, wirklich gegeben. Als würden dich (und nicht nur dich) diese Bilder, die du nie gesehen hast, so wie sie der Mann, der sie aufgenommen hat, nie gesehen hat, festhalten und immer festgehalten haben: dich (und nicht nur dich) daran gehindert, erwachsen zu werden, gezwungen, frei zu sein, frei und schuldig; schuldig an der Zerstörung der Idylle, die nie deine (und noch weniger die Monas) war (aber gab es nicht doch irgendeinen Nachmittag, einen fast vergessenen Nachmittag, an dem dich einfach das Licht gestreichelt hat, unter deine Haut gedrungen ist, in einen Kern (nicht nur deinen), der immer da sein wird, auch wenn du dich nicht an ihn erinnerst?). Sie hat die Fotos von dem merkwürdigen Boten, der sie ihr in einem Kaffeehaus zeigte, verlangt oder zurückverlangt; sie denkt, diese Fotos gehören zu einem abstrakten Schema; der merkwürdige Bote, Walter Steiner, gehört in seiner Merkwürdigkeit und Ahnungslosigkeit zu diesem Schema (deshalb hat sie ihm etwas angeboten; deshalb trotz ihres Widerwillens das Gefühl der Gemeinsamkeit), sie versucht, die Dinge in Bewegung zu bringen. Die Fotos, die sie selbst aufgenommen hat, schaut sie nicht an; es wäre besser, wenn sie im Besitz oder in der Verwahrung dieses Walter Steiner (den sie als Walter anspricht und in ihrem Kopf Doktor Steiner nennt) geblieben wären.
Das bist du, die dich anschaut und sieht, was einmal
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