Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
wegschneiden zu lassen, das Licht, in dem die Leute ihre Blicke ausruhen, dann können sie interpretieren und fühlen sich gut und überlegen und du bist ihr Kasperl, wie du in jedem anderen Beruf der Kasperl von irgendjemandem bist, er denkt, in jedem Beruf bist du ein Dreck, ein Geldschein. Der Tanz muss wie eine Krankheit sein, sagt sie. Eine Krankheit hat keinen Sinn, sie ist da. Und sie hat ihre Regeln, sie fängt an, wo deine Gedanken aufhören und verbiegt dein Bewusstsein, bis du es nicht wiedererkennst. Weh dem, der Symbole sieht, kennst du den Satz? Er nickt, wundert sich, dass sie (die für ihn ein Mädchenkörper auf einer Fotografie war, ein Blick, ein Versprechen, dann ein unangreifbarer Frauenkörper, ein Mund mit einem Stück Fleisch auf der Zunge, ein Versprechen, eine Angst) so abstrakt redet, dann ist er sich nicht sicher, ob sie wirklich abstrakt redet oder ob nicht etwas anderes im Entstehen ist. Die Krankheit hat ihr eigenes Zeitmaß, sagt sie, die Krankheit, der Tanz, die Revolution. Während eines einzigen äußeren Augenblicks kann die Zeit innen verschwunden sein, ohne eine Spur davon, ob sie eine Minute oder eine Stunde ausgesetzt hat – kennst du den Satz? Er schüttelt den Kopf. Das ist ein Kolloquium, denkt er, und er selbst ein kurioser greiser Schüler, dessen Wohnung sich in ein Gymnasium zu verwandeln beginnt. Das ist eine Deutsch-, eine Tanz-, eine Religions-, eine Geschichtsstunde, ein Teach-In , wie es in seiner idiotischen Jugend hieß. Er sitzt auf dem Sofa, die Gestalten, die durchs Zimmer gleiten, lösen sich auf oder fließen zu einer einzigen Gestalt zusammen, er glaubt, ihre Silhouette vor dem Fenster zum Balkon wahrzunehmen.
Schließen Sie die Augen, sagt sie zu ihm. Das plötzliche Sie lässt ihn frösteln.
Er schließt die Augen und befindet sich in einem Wald. Er sieht den Wald in seiner Weite, wie ein Wesen, das nicht an einen Fleck Erde gebunden ist und hindurchgleiten kann zwischen den schlanken Baumstämmen; er gleitet hindurch zwischen den schlanken Baumstämmen. Wälder wie diesen hier gibt es in dieser Gegend, in diesem Land gar nicht, so eben, so licht, so endlos ohne Straßen und Forstwege, ohne Markierungen an den Bäumen, er wünscht sich, am Ende seiner Gleitbewegung zwischen Kiefern am Rand eines Meeres anzukommen, aber da sind keine Kiefern, da ist kein Meer. Unter einem Baum, im Reisig, sieht er einen erkaltenden Körper, einen Körper zwischen Wachen und Schlaf, mit schwindendem Bewusstsein, in dem (er weiß es von außen, als säße er in diesem Körper drin) nur die Angst an Raum und an Stärke gewinnt.
Es gibt einen Blick, wie ein Rasiermesser, der dir die Jahrzehnte von den Beinen schabt. Ihre nackten von der Sonne beschienenen Beine, im Garten, seine nackten Beine, während er durch den Wald läuft, unter einem Baum liegt, angeschaut, allein und doch so sichtbar, als würde er gefilmt.
Er spürt eine Bewegung in den Zweigen (aber da ist nichts), einen Lufthauch (aber da ist nichts) (er spürt es).
Dann hört er sich etwas sagen, was er noch niemals gedacht hat. Dieses Gewebe, das man Zeit nennt, lässt sich einfach auflösen. Es kommt nur auf den richtigen Blick an. Er fühlt sich nicht gut, er fühlt sich nicht überlegen, er fühlt sich sichtbar, in dem dunklen Raum, und weiß nicht, warum er selbst in dem dunklen Raum etwas sieht, wünscht sich, sie würde ihn berühren, diese Frau, diese Schwester einer anderen Frau, einfach nur berühren, egal wie, dann würde er ein wenig Sicherheit haben.
Machen wir weiter, fragt er beinahe flehend, ja, wir machen weiter, sagt sie, aber nicht in der Wirklichkeit. Die längste Zeit weiß er nicht, was sie damit meint.
VII
(leerer Raum)
Es kommt nur auf den richtigen Blick an. Es geht um eine Geste, ein schroffes Abbrechen, eine Verneinung oder einfach ein fast zufälliges Abspringen; dann faltet sich alles auf, wie eine Blume, oder als würde ein ganzes Leben sich als buntes Bild in einer klaren Flüssigkeit auflösen: parallele Landschaften, eine Vielfalt von Landschaften, in endloser Gleichzeitigkeit. So kann er es sich vorgestellt und seine Todesangst bezwungen haben (oder aber ihr, auf eine paradoxe Art und Weise, nachgegeben; man kann sich nämlich aus Angst vor dem Tod töten). Aber dann ist es doch nur ein Steckenbleiben, in irgendeiner Vergangenheit; oder in einer seltsamen imaginären Zeit neben der Vergangenheit; ein Steckenbleiben im Sprung. Und es riecht nach Verwesung, und die Bilder sind
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