Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
kommen wird, denkt sie dann; das Mädchen hat es nicht gewusst, aber es schaut dich an, um es zu wissen. Halb auf der einen, halb auf der anderen Seite.
Sie liegt auf dem Sofa, schaut auf die Fotos in ihren Händen, die, eines nach dem anderen, im Lichtkegel einer Stehlampe erscheinen, ihr Gesicht im Schatten, sie schaut hoch zur Zimmerdecke: eine graue Fläche ohne Muster und Halt, von der sie endlos abstürzen kann. Ihr Hinterkopf auf der Seitenlehne des Sofas. Ihre angezogenen Knie. Ihre Füße in kurzen Socken, jetzt, an einem Tag in der Zukunft, in dem sie keinerlei Halt hat; die Tage und die Räume geben ihr keinen Halt mehr.
In einem Haus, in dem ihre Mutter heute alleine wohnt und altert, hielt sich in einer Zeit, die Gegenwart und sozusagen noch die richtige Zeit war, der Mann, der ihr Vater war (also sozusagen noch ein richtiger Mensch), die Kamera vor die Augen und zog eine Grenze durch den Raum; auch wenn er keine Kamera bei sich hatte, ging er, wann immer er von seinem Büro freigelassen war, in jenem Garten und jenem Haus umher wie hinter Glas, mit grauer Haut und zigarettengelben Fingern, Sommer für Sommer, verloren und unangreifbar, aber immer gerade noch ein richtiger Mensch. Einige Jahre lang machte er einfach Kinderfotos, wie sie in den Alben aller Familien dieses Jahrhunderts stecken, um nach ein paar Jahrzehnten und zwei oder drei Generationen auf dem Flohmarkt zu landen, jeder konnte diese Fotos sehen, doch allmählich, vielleicht sobald keine Kinder (mit ihrem Anschein des unschuldig Dekorativen) mehr da waren und damit kein Vorwand, die Zeit anzuhalten, wurde der Gegenstand seiner Bilder unsicher, zumindest für ihn selbst, so denkt sie jetzt; Hintergrund und Vordergrund verschwammen. Etwas schien sich seines Blicks zu bemächtigen; auf der anderen Seite der Grenze (dort, wo er sie sah, ohne dass sie dort gewesen wäre) veränderten sich die Dinge; aber vielleicht begann er zu sehen, dass die Mädchen gar nicht hineingehörten in sein Bild, deshalb veränderten sich die Dinge; vielleicht hat er gemerkt, das Festhalten von Bildern war nur ein Verlieren des Angeschauten: Die Körper schienen zu fremden Menschen zu gehören, nicht seinen Töchtern, von seiner Seite der Grenze aus (du kennst das) war ein Körper, ein Gesicht nicht zu fassen, nicht einmal die Fremdheit eines Körpers und eines Gesichts. Das Fleisch von Menschen, Haut und Haar seiner Töchter gehen ihn nichts an, irgendwann hat er das vielleicht gemerkt und dann aufgehört, die Filme entwickeln zu lassen. Oder er konnte es nicht ertragen, plötzlich selbst angeschaut zu werden, mit einem Blick, der etwas zu wissen scheint, was niemand weiß. Dass im Bild ein Geheimnis versteckt sein kann, diese Illusion war etwas für Romane, für Romantiker, nichts für ihn, aber warum machte er weiter, was trieb ihn an. Jeder Lichtstreifen bringt einen unbekannten neuen Raum hervor, so steht auf einem Blatt Papier, das ihr Walter, nein, Dr. Steiner gegeben hat, in einem Text, der für sich keinen Wert hat, einem Text voller Illusionen, einem Text für Romantiker und Romane. Sie versucht, die Dinge in Bewegung zu bringen. Es ist nicht ihre Inszenierung, das wäre langweilig, sie treibt ihr Spiel im Schatten einer Inszenierung und will das Schema aus der Inszenierung hervortreten lassen und aus dem Schema ein Wirkliches, ein Wirkliches außerhalb des Wirklichen.
Hinter dem gardinenlosen Fenster, dem kahlen Balkon ist nur der Innenhof zu sehen, eine Feuermauer, auf der sich unmerklich langsam Schatten bewegen. In seinen Muskeln wohnen, wie verklumpte Sandkörner, die Tage, die er in diesem Haus verbracht hat, die Stunden seines Lebens. Er liegt Abend für Abend im Wohnzimmer auf dem Parkettboden und macht gymnastische Übungen, zum ersten Mal seit seiner Schulzeit, mit Blick auf den Fernseher, ein stampfender Rhythmus in seinem Kopf. Die Formen lösen sich auf, seine Muskeln lösen sich auf, ein Zerrieseln im stampfenden Rhythmus. Er bewegt sich, als wäre er nicht da, das ist Teil der Vorbereitung, er kann also auch wieder aus dem Haus gehen, nicht nur zum Einkaufen. Fast hat er die Bilder vom Grabstein und den Kränzen, die ihm die Tänzerin zurückgegeben hat, vergessen, nach einem halben Jahr oder weniger; so als würden die Toten sich entfernen, als würde die Zeit einen Unterschied machen. Wenn er seine Finger aneinanderreibt, spürt er, dass da noch etwas anderes ist als Haut. Er glaubt in diesen Wochen und Monaten, sich an die Leere
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