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Regulator: Roman

Regulator: Roman

Titel: Regulator: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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eins, das ihn in Gedanken mit einem weißköpfigen Seeadler durcheinandergebracht hat.«
3
    Der Anblick von Ralphie Carver tat Johnny in der Seele weh. Jim Reed, dessen Mitgefühl von der Aufregung über das bevorstehende Unternehmen verdrängt worden war, hatte Ralphie von sich gestoßen, so daß der Junge nun mit dem Daumen im Mund und einem großen nassen Fleck im Schritt seiner Shorts zwischen Herd und Kühlschrank stand. Sein ungezogenes, prahlerisches Benehmen war verschwunden. Seine Augen waren riesig und still und glänzend. Johnny fand, er sah aus wie Drogensüchtige, die er gekannt hatte. Johnny blieb an der Küchentür stehen und setzte Ellie ab. Sie wollte nicht gehen, aber schließlich gelang es ihm, ihre Hände behutsam von seinem Nacken zu lösen. Ihre Augen blickten ebenfalls wie im Schock, aber Johnny konnte nichts von dem barmherzigen Glanz sehen, der in denen ihres Bruders stand. Er sah an ihr vorbei und erblickte Kim und Susi Geller, die auf dem Boden saßen und die Arme umeinander gelegt hatten. Gefällt Mom wahrscheinlich besser, dachte Johnny und dachte daran, wie die Frau mit dem jungen David Reed um das Mädchen zu kämpfen schien. Vorhin hatte David gewonnen, aber jetzt hatte er ein heißeres Eisen im Feuer; er würde sich zur Anderson Avenue und in die unbekannte Wildnis aufmachen. Das änderte aber nichts an der Tatsache, daß es hier zwei Kinder gab, die seit dem Mittagessen zu Waisen geworden waren. »Kim?« fragte er. »Könnten Sie mir vielleicht ein bißchen helfen und -« »Nein«, sagte sie. Nicht mehr, nicht weniger. Und ruhig. Ohne trotzigen Blick, ohne hysterische Stimme ... aber auch ohne Mitgefühl. Sie hatte einen Arm um ihre Tochter gelegt, ihre Tochter einen Arm um sie, schnuckelig wie selten, zwei weiße Mädchen, die herumsaßen und darauf warteten, daß die Wolken sich verzogen. Möglicherweise verständlich, aber Johnny war trotzdem wütend auf sie; plötzlich verkörperte sie für ihn alle, die gelangweilt dreinschauten, wenn das Gespräch auf Aids oder obdachlose Kinder oder die Abholzung des Regenwalds kam; sie verkörperte jeden, der über einen auf der Straße schlafenden Obdachlosen hinwegschritt, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Was er selbst gelegentlich auch schon getan hatte. Johnny konnte sich vorstellen, wie er sie an den Armen packte, auf die Füße zerrte, sie herumdrehte und ihr einen saftigen Tritt mitten in ihren schmalen Arsch versetzte. Vielleicht würde sie das aufwecken. Und selbst wenn nicht, würde wenigstens er sich ein bißchen besser fühlen. »Nein«, wiederholte er und spürte, wie eine alberne Wut in seinen Schläfen pochte.
    »Nein«, stimmte sie zu und zeigte ihm ein klägliches kleines Wenigstens-Sie-verstehen-mich-Lächeln. Dann drehte sie den Kopf zu Susi und strich dem Mädchen über das Haar. »Komm her, Liebes«, sagte Belinda zu Ellen, bückte sich und breitete die Arme aus. »Komm her und bleib ein Weilchen bei Bee.« Das Mädchen kam stumm, das Gesicht zu einer verkrampften Maske des Kummers verzerrt, die ihr Schweigen irgendwie noch schlimmer machte, und Belinda nahm sie in die Arme.
    Die Reed-Zwillinge beobachteten das alles, sahen es aber eigentlich nicht. Sie standen mit großen Augen und aufgeregt an der Hintertür. Cammie ging zu ihnen, stellte sich vor sie und maß sie mit einem Blick, den Johnny zuerst für Strenge hielt. Nach einem Augenblick wurde ihm klar, worum es sich tatsächlich handelte: eine so große Angst, daß sie sich nur teilweise verbergen ließ.
    »Na gut«, sagte sie schließlich. Ihre Stimme klang trocken und nüchtern. »Wer nimmt ihn?« Die Jungs sahen einander an, und Johnny hatte das Gefühl, als würde eine Kommunikation zwischen ihnen stattfinden - kurz, aber komplex, wie es vielleicht nur Zwillinge fertigbringen. Vielleicht, dachte er, ist aber auch nur dein Gehirn weichgekocht, John. Was gar nicht so abwegig war. Es fühlte sich auf jeden Fall wie weichgekocht an. Jim streckte die Hand aus. Einen Augenblick bebte die Oberlippe seiner Mutter. Dann riß sie sich zusammen und gab ihm David Carvers Revolver. Dave nahm die Munition und machte die Schachtel auf, während sein Bruder den Zylinder der Fünfundvierziger drehte und die Waffe ans Licht hielt, um sich zu vergewissern, daß die Kammern leer waren, wie Johnny es getan hatte. Wir sind vorsichtig, weil wir begreifen, daß eine Waffe verstümmeln und töten kann, dachte Johnny, aber das ist nicht alles. Auf einer bestimmten Ebene

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