Reich der Schatten
Anhöhe lag. Im Lauf des Nachmittags veränderte sich die Farbe der Landschaft, und Paul beobachtete gebannt all die kleinen Variationen. Es war wirklich alles sehr schön.
Die Frau trat kurz zu ihm, lächelte ihn an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Aber vielleicht wollte sie sich auch nur vergewissern, dass er noch da war.
Er erwiderte ihr Lächeln und erklärte, der Wein sei ganz vorzüglich.
Schließlich wurde er es leid, herumzulaufen und die Aussicht zu genießen. Er wurde es sogar leid, mit dem Fernseher und der Fernbedienung zu spielen, denn er fand nichts, was ihn wirklich fesselte.
Außerdem musste er ständig an Yvette denken.
Er fragte sich, warum er sie so sehr liebte. Aber er liebte sie aufrichtig, und das – wie ihm vorkam – schon seit Ewigkeiten. Er war immer, bei zahllosen Gelegenheiten, für sie da gewesen. Im Lauf der Jahre hatte er sich zwar manchmal über sie geärgert, aber sie hatte ihm immer wieder gesagt, sie sei ein Freigeist und wolle sich von niemandem fesseln lassen. Falls er versucht sein sollte, sie festzuhalten und sich wie ein riesiger Backstein an ihren Hals zu hängen, würde sie einfach nicht mehr mit ihm reden. Und das wäre das Ende ihrer Freundschaft. Nie mehr würde sie, wenn sie gerade nichts anderes zu tun hatte, Zeit mit ihm verbringen und Dinge mit ihm tun, die ihm schier den Atem raubten und so viel Lust bereiteten, dass ihre ständige Untreue umso heftiger schmerzte. Aber er glaubte fest daran, dass sie letztlich ihrer Jagd nach Abenteuern und Reichtümern überdrüssig werden würde. Dann würde sie sich daran erinnern, dass er stets für sie da gewesen war, ein Fels in der Brandung, jemand, auf den Verlass war und der immer auf sie wartete. Immer, egal, was sie ihm angetan hatte. Er hatte vor Langem den unumstößlichen Vorsatz gefasst, immer für sie da zu sein. Manchmal hatte er sich ausgemalt, sie hätte vielleicht mit irgendeinem Typen Ärger und er würde eingreifen, den Burschen mit einer geübten Rechten in seine Schranken weisen und für Yvette zum Helden werden.
Und jetzt …
Die geköpfte Leiche in der Pathologie war nicht Yvette gewesen.
Noch bestand Hoffnung.
Er lag mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa, ließ seine Füße über die elegant geschwungene Seitenlehne baumeln und sah fern. Nun ließ er die Fernbedienung auf den Boden fallen. Er lauschte nur mit halbem Ohr den Sportnachrichten, denn seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er träumte von Yvette. Er hätte viel strenger mit ihr sein müssen. Oft genug hatte sie ihn verletzt, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Blicken. Warum musste sie sich ständig mit anderen Männern herumtreiben? Geld war doch nicht alles im Leben. Und wenn ihr Blick dann mitleidig auf ihm ruhte …
Niemand würde sie je so lieben wie er.
Beim Einschlummern erschien sie ihm im Traum, Yvette, so schön. Sie wirkte verspielt und schien in einer sehr sinnlichen Stimmung. Langsam schlenderte sie auf ihn zu, mit wiegenden Hüften und gestrafften Schultern. In ihren Augen blitzte etwas auf, was er dort nicht oft gesehen hatte – zumindest nicht in den letzten Monaten: ein Blick, der ihm sagte, dass sie Lust auf ihn hatte.
Paul, du dummer Junge, da bist du ja. Wir haben uns gestritten, aber das war albern. Ich brauche dich jetzt. Ich weiß, dass ich böse war, aber du hast mir schon so oft verziehen. Du bist es doch, den ich wirklich haben will, den ich letztlich immer haben wollte. Und weißt du was, Paul, ich möchte dich jetzt haben.
Ich möchte dich jetzt haben.
Was für ein unglaublicher Traum! Sie hatte ein seltsames Kleid an, wie aus Gaze oder Spinnweben, es bauschte sich um sie, während sie auf ihn zukam. Er wusste, dass sie darunter nichts trug. Hier und da blitzte ihre Nacktheit auf, man konnte die Farbe ihrer Brüste erahnen, die Schatten, wo sich ihre Beine trafen. Sein Mund wurde trocken, und er setzte ein törichtes Grinsen auf. Er sollte nicht so grinsen, er sollte sein wie ihre anderen Liebhaber: gelassen und höflich. Er sollte sich zurücklehnen, sie abwartend betrachten, abwägen, er sollte sie ihr ganzes Repertoire durchspielen lassen, sie necken, damit sie sich wenigstens einmal nach ihm verzehrte …
Nach ihm.
Natürlich war es nur ein Traum, und deshalb fiel es ihm viel leichter, sich nicht zu bewegen. Aber der Traum war seltsam: Je näher sie kam, desto sicherer war er sich, dass es Yvette war, die richtige Yvette. Sie hatte Probleme, und sie versuchte, ihn zu erreichen. In
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