Reich der Schatten
hinab.
»Nein!«, kreischte Tara.
Er richtete sich auf, sah sie an. Da erkannte sie ihn.
Sie hatte ihn schon einmal gesehen.
»Nein!«, schrie sie abermals und stürzte quer durchs Zimmer. Dabei zerrte sie das große, reich verzierte Kreuz aus ihrem Ausschnitt, das Jacques ihr aufgedrängt hatte. Sie riss es nicht ab, sondern drehte es nur so, dass sie es als Waffe einsetzen konnte.
»Nein! Nein! Nein!«
Sie warf sich gegen ihn. Es schien ihr, als würde sie gegen eine stählerne Wand prallen, doch das war ihr egal. Sie umklammerte das Kreuz.
Der Mann packte ihre Hand, er hatte Riesenkräfte. Und er begann heftig zu fluchen.
»Ich werde Sie töten!«, stieß sie verzweifelt hervor. Sie hatte die Zähne gefletscht, und es war ihr bitterer Ernst. Egal wie stark oder mächtig er war, sie würde es nicht zulassen, dass er Ann wehtat.
Plötzlich regten sich enorme Kräfte in ihr. Sie glaubte, dass sie ihn tatsächlich töten könnte, weil sie ihn töten musste. Sie hatte gehört, dass Eltern ihre Kinder aus höchster Not retten konnten, und auch Geschwister konnten einander retten. Sie konnten Autos hochstemmen, Türen eintreten und andere erstaunliche Taten vollbringen, weil die schiere Verzweiflung einen immensen Adrenalinschub verursachte. Tara war verzweifelt darum bemüht, ihre Cousine zu retten. Sie musste sich unbedingt aus dem Griff dieses Mannes befreien. Und tatsächlich schaffte sie es, eine Hand frei zu bekommen und das Kreuz hochzuheben, um es ihm im nächsten Moment in die Augen zu stoßen. Wenn sie nicht stark genug war, ihn zu bezwingen, so hoffte sie zumindest, ihn verletzen, blenden oder ihm richtig wehtun zu können, um dann erneut auf ihn loszugehen.
»Tara!« Anfangs drang dieser Ruf nur ganz schwach an ihr Ohr.
»Tara!«
Der Ruf hätte von irgendwoher kommen können, vielleicht sogar tief aus ihrem Inneren, vielleicht von ganz weit weg, aber die Stimme wurde immer lauter, während sie noch gegen ihren Gegner ankämpfte.
»Hilfe!«, stammelte sie.
»Tara!«
Es war Brent. Er schien weit, weit weg gewesen zu sein und hatte sie doch aus der Ferne rufen hören. Vielleicht hatte er gespürt, dass sie in Gefahr schwebte.
Doch jetzt war er nah, er war hier, er stand an der Türschwelle.
»Brent! Gott sei Dank! Hilf mir!«
Das tödliche Kräftemessen ließ sie erzittern. Zu ihrem eigenen Erstaunen hielt sie noch immer Stand, doch jetzt …
… schwanden ihre Kräfte.
»Brent, hilf mir!«
Er kam mit langen, entschlossenen Schritten ins Zimmer. Sie richtete ein Dankgebet an Gott. Er war gekommen, um ihr zu helfen, sie würde nicht versuchen müssen, dieses gefährliche Ungeheuer allein zu bezwingen.
»Tara!« Das Wort, ihr Name, klang barsch. Es überlief sie eiskalt.
Und dann …
… war er bei ihr.
Er riss sie von dem großen blonden Mann weg, umklammerte sie nun selbst mit eisernem Griff.
Einem Griff, aus dem es kein Entkommen gab.
»Nein!«, schrie sie.
Sein Griff wurde noch fester. Sie konnte nichts mehr sehen, vor ihren Augen sprühten Funken. Sie bekam kaum Luft, sie hörte nur noch ihren donnernden Herzschlag, der immer langsamer wurde.
Tara …
Sie hörte seine Stimme, ein tödliches Flüstern an ihrem Nacken.
Und sie wusste …
… dass er nicht gekommen war, um ihr zu helfen, um ihr Leben zu retten – sondern um sie zu töten.
16
Sie hatten Paul in eine wundervolle Hotelsuite gebracht, ausgestattet mit kostbaren alten Möbeln. Sie hatten ihm alles dagelassen, was er nur wollte – Kaffee, Wein, Obst, Käse, Brot, Salzstangen.
Die Männer waren gegangen, die Frau war geblieben.
Sie hatte sich in das Nebenzimmer zurückgezogen und arbeitete an einem Computer. Was sie machte, wusste er nicht, doch sie schien etwas zu suchen. Sie war sehr schön und, wenn sie gelegentlich nach ihm sah, auch sehr freundlich.
Anfangs hatte ihn die Hotelsuite völlig fasziniert. Er lief hin und her, fuhr mit der Hand über die auf Hochglanz polierten hölzernen Möbel, setzte sich auf das dick gepolsterte Sofa, stand auf, setzte sich wieder, richtete die Kissen, nahm sich ein Glas Wein. Dann spielte er eine Weile mit der Fernbedienung des Fernsehers, aber mit der Zeit wurde er abermals sehr nervös. Er öffnete die Balkontüren, trat hinaus und betrachtete die umliegenden Straßen. Der Blick war wundervoll. Er hatte die Gegend noch nie so gesehen. Wenn er auf den Feldern arbeitete, sah er sich natürlich auch um, doch hier reichte der Blick viel weiter, da das Hotel auf einer kleinen
Weitere Kostenlose Bücher