Reich der Schatten
sein.«
Sie wusste, dass er nachgeben würde. Katia war keine große Hilfe – sie kauerte in einem Sessel, stöhnte und pendelte wie betäubt hin und her. Aber Jade hatte alles geholt, was Jacques ihr aufgetragen hatte, und nun war sie gerüstet. Ihr Glaube würde stets ihr größter Schutz sein, hatte Jacques ihr erklärt. Mit Weihwasser konnte man die Ungeheuer zwar verbrennen und verätzen, aber nicht vernichten, es sei denn, man hatte ganze Eimer voll davon. Sie war auch mit einem Pfahl ausgestattet, den Jacques schon als Kind von seinem Vater bekommen hatte, und daneben mit einer neueren Waffe. Schließlich hatte ihr Jacques noch ein rasiermesserscharfes Schwert überreicht, das er offenbar stets geschliffen aufbewahrt hatte. Zu guter Letzt schärfte er ihr noch ein, dass die Köpfe abgeschlagen oder aber die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt werden müssten.
Dann setzte sie sich in ihr Auto und fuhr so weit es eben ging.
Danach setzte sie den Weg zu Fuß fort, quer durch den Wald.
Alles war wie in ihrem Traum.
Es war dunkel, unglaublich dunkel. Nur das Mondlicht ließ ein paar Streifen in dieser Finsternis aufleuchten, doch der Mond verschwand viel zu häufig hinter den Wolken, als ob diese sich mit den Vampiren verbündet hätten.
Feuchtes Gras streifte ihre Knöchel, und kalte Luft blies ihr entgegen, doch keine kalte Nachtluft, sondern etwas anderes.
Etwas, was zu den unsteten, sich ständig wandelnden Schatten gehörte.
Mit jedem Schritt wuchs ihre Angst. Sie wusste, dass sie dem Haus immer näher kam, dass sie darauf zuging, anstatt davor wegzurennen, was sie so viel lieber getan hätte.
Eine stille Bitte formte sich in ihrem Kopf.
Hilf mir, bitte, komm und hilf mir!
Jetzt wusste sie alles, mehr, als sie je hatte wissen wollen. Sie wusste, was in den Schatten vor ihr lag, und sie wusste auch, wen sie im Stillen um Hilfe anflehte.
Aber er saß im Gefängnis. Er war ins Gefängnis gegangen, um ihrem Großvater die Verhaftung zu ersparen. Viel zu spät war ihr klar geworden, dass die beiden sich nicht nur flüchtig kannten, sondern einen richtigen Bund eingegangen wa-ren. Sie hatten einander das Leben gerettet, sich gegenseitig unterwiesen, miteinander gelernt, wieder am Leben teilzunehmen. Und nun hatte er sich abführen lassen, damit Jacques verschont bliebe. Er hatte gesagt, ihm würde schon nichts passieren …
… aber jetzt war er nicht da!
Und sie lief …
… und lief. Ganz allein.
Ein seltsamer Vogelruf ertönte mitten in der Nacht. Nein, das war kein Vogel, es war der Wind, der stärker wurde, stärker, kälter, lauter.
Und in dem Wind vernahm sie ihren Namen.
Tara … Tara … Tara …
Die Finsternis senkte sich immer tiefer herab.
Hinter ihr hörte sie Schritte. Verstohlene, heimliche Schritte. Sie ging, sie blieb stehen, sie drehte sich um. Nichts war zu sehen, niemand, nur flüchtige Schatten.
Ihr war kalt, sie zitterte. So fest umklammerte sie den Pfahl, den sie in beiden Händen hielt, dass ihre Finger sich verkrampften. Es fiel ihr immer schwerer, weiterzugehen, den nächsten Schritt zu tun. Vor ihr war alles dunkel, dann wieder schwach erhellt, dann verdeckten Schattenflügel das Licht, dann erklang Gelächter, dann wieder ihr Name …
Sie war nun ganz nah.
Sie hörte Laute, die wie Flattern klangen. Es überlief sie eiskalt, denn es schien, als wären die Schatten lebendig, lebendig und kalt, und als würden sie an ihr vorbeihuschen und an ihr zupfen. Es war wie eine böse, bedrohliche Liebkosung, die sie rief, sie verspottete und neckte.
Ihr Traum, ihr Albtraum, oh Gott, ihr Albtraum wurde Wirklichkeit.
Am liebsten hätte sie sich einfach fallen lassen, die Hände über den Kopf gelegt und nur noch geschrien und um Licht gebettelt.
Aber dort war Ann.
Und deshalb ging sie weiter, so wie sie es in ihrem Traum getan hatte.
Sie kam an das Haus. Efeu hatte die Fassade fast vollständig überwuchert, doch drinnen brannte ein Feuer. Ein Feuer, dessen Flammen hoch schlugen, so hoch, dass die Mauern des Kamins knackten, so hell, dass der Schein neue Formen und Schatten schuf.
Während sie näher trat …
… ging die Tür auf.
Und der Wind flüsterte wieder ihren Namen.
Tara … Tara … Tara … komm rein …
Wir haben schon gewartet. Auf dich.
19
Das Haus war genauso wie in ihrem Traum: teure alte Möbel, Gemälde an den Wänden, die grausame oder obszöne Szenen zeigten – Hinrichtungen, Blutvergießen, Orgien … alles in lebhaften Farben und so
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