Reich der Schatten
detailgetreu, dass selbst das Kaminfeuer darauf so echt wirkte wie das Feuer im richtigen Kamin.
Tara sah sich gründlich um. Die seltsamen Geräusche und die Luftströme, die an ihr vorbeiwehten und sie berührten, schienen immer häufiger zu werden. Sie wusste, dass sie den Gang durchqueren musste.
Sie sah es.
Sie sah das Dunkel und das Licht …
… und die erste Tür, die sie, wie sie wusste, öffnen musste.
Ihre Hand lag bebend auf dem Türknauf. Das Gefühl des kalten Metalls war echt, aber alles in ihrem Traum hatte ebenso real gewirkt. Dennoch wusste sie, dass nun alles anders war, und einen Moment lang verharrte sie zitternd, von panischer Angst ergriffen. Sie hatte nichts glauben wollen … und jetzt stand sie hier. Völlig allein musste sie sich unfassbaren Ängsten stellen. Und noch immer kam es ihr absurd vor. War es denn nicht absurd, dass es tatsächlich Geschöpfe gab wie Vampire und Werwölfe? War es nicht absurd, dass sie verzweifelt darum betete, dass eines dieser Geschöpfe doch bitte rasch kommen möge? Denn offenbar war alles wahr, und sie hatte wahnsinnige Angst, dass sie die Aufgabe, die ihr bevorstand, nicht bewältigen konnte.
Jacques schien Vertrauen in sie zu haben. Ihr war es angeblich bestimmt, die Mitgliedschaft in der Allianz fortzusetzen. Und was hatte sie davon? Einen ihr vorbestimmten törichten Tod.
Wenn sie jetzt weglief, würden sie sie verfolgen. Und selbst wenn ihr die Flucht gelänge, hätte sie versagt, denn ihre Cousine würde sterben.
Oder ein schlimmeres Schicksal erleiden.
Sie überwand sich und drehte vorsichtig den Türknauf. Mit einem hässlich lauten, nervtötenden Knirschen ging die Tür auf.
Rasch wich sie zurück, weil sie mit einem Angriff rechnete und damit, dass Körperteile auf dem Boden herumlägen, die nur darauf warteten, sich zu vereinen und sie zu verfolgen. Doch als sie vorsichtig in den Raum spähte, sah sie zunächst gar nichts – bis ihr Blick auf eine Frau fiel, die sich langsam aus einem Stuhl neben einem Bett erhob.
Eine junge Frau. Nicht Louisa, sondern eine Frau, die Tara zum ersten Mal sah.
Sie war nackt und betrachtete Tara, als wäre es das Allernatürlichste, dass jemand einfach so eintrat. Sie streckte sich, hob ihr langes Haar an, ließ es wieder fallen, lächelte wollüstig. »Hallo! Sollen wir miteinander spielen? Ich spiele liebend gern …«
Aufreizend die Hüften wiegend, trat sie näher. Tara starrte sie angstvoll an. War diese Frau eine Gefangene, ein armes, bemitleidenswertes Wesen, dem man zur Flucht verhelfen sollte, oder …?
Kurz bevor sie Tara erreicht hatte, machte das Wesen den Mund auf und stieß einen gespenstischen Zischlaut aus.
Es hatte Reißzähne, so lang wie die eines Säbelzahntigers – zumindest kamen sie Tara so vor. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie ihr Ziel nicht verfehlen möge.
Dann rammte sie den mitgebrachten Pfahl in die Brust des Geschöpfs, wobei ihr speiübel wurde. Dennoch zwang sie sich, das Schwert in beide Hände zu nehmen. Beim ersten Schlag musste sie den Blick abwenden.
Sie hatte den Kopf noch nicht abgetrennt.
Sie musste noch einmal zuschlagen, auch wenn sie unwillkürlich dagegen protestierte. »Nein! Nein! Nein!«, brach es aus ihr heraus wie eine Totenklage.
Doch schließlich rollte der Kopf.
Zitternd starrte sie auf das, was sie angerichtet hatte. Es war nicht viel Blut geflossen. Was hatte sie eigentlich erwartet? Dass der Körper sich in einen Haufen Asche verwandelte und von einem Windstoß zerstreut würde? Nein, so war es nicht. Der Körper lag in seinen Einzelteilen vor ihr auf dem Boden.
Sie spürte die Anspannung in ihren Händen, denn sie hielt Jacques’ Schwert noch immer fest umklammert. Sie schluckte, legte das Schwert weg, beugte sich nach unten und zog den Pfahl aus dem Körper des Geschöpfs. Sie musste kräftig ziehen, bis er schließlich mit einem ekelerregenden Geräusch herausglitt.
Tara, Tara, Tara …
Wieder wurde ihr Name gerufen, sanft, verführerisch, belustigt. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie noch nicht viel geschafft hatte. Diese junge Frau war nur eine erste Hürde gewesen, ein Bauernopfer, keinesfalls wertvoll für ihren eigentlichen Gegner, völlig verzichtbar.
Sie kehrte in den Gang zurück und sah sich abermals gründlich um, wobei sie sich bemühte, ihre Panik in Griff zu bekommen.
Wenn sie nur gewagt hätte, ihre Cousine zu rufen! Doch sie tat es nicht, denn sie wollte sich möglichst leise bewegen, auch wenn
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