Reich der Schatten
rasch einen Morgenmantel über das Nachthemd gestreift hatte, stand mit wirrem grauem Haar da und starrte sie mit großen Augen an.
»Was ist los? Ist etwas passiert?« Sie trat ins Freie und sah sich um.
Tara kam sich plötzlich ausgesprochen töricht vor. Es war nichts passiert, bis auf eine leichte Brise wirkte die Nacht völlig ruhig.
»Ich habe nur schnell noch Daniel begrüßt«, erklärte sie der Haushälterin zerknirscht. »Ich dachte, Ann sei draußen.«
»Sie war auch draußen, ist aber bald wieder reingekommen und liegt jetzt schon im Bett.«
»Es tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung.«
»Danke fürs Aufmachen. Ich hatte meinen Schlüssel nicht eingesteckt, ich bin nur kurz raus, um Daniel zu sehen.«
Katia nickte, auch wenn sie aussah, als verstünde sie nicht recht, was Tara bewogen hatte, um diese Zeit das Pferd zu besuchen. Sie hielt es offenbar für eine ziemlich hirnrissige Idee.
»Ich gehe jetzt auch ins Bett«, versprach Tara.
»Bonne nuit« , sagte Katia und schloss die Tür ab. Sie stellte die Alarmanlage an und schlurfte gähnend in ihr Zimmer, das hinter der Küche lag.
Tara ging ebenfalls auf ihr Zimmer. Sie trat an die Balkontür, dann zögerte sie wieder. Sie war völlig erledigt, aber vor dem Zubettgehen wollte sie noch duschen und mit dem Staub aus den Katakomben auch die Angst und das Unbehagen abwaschen.
Duschen und dann endlich schlafen!
Sie duschte ausgiebig mit heißem Wasser, dann rubbelte sie sich trocken und schlüpfte in ein Baumwollnachthemd. Wie lange war sie aufgewesen? Sie konnte es nicht genau sagen. Die Zeitverschiebung machte sich bemerkbar.
Vielleicht sollte sie noch ein paar Dinge auspacken?
Sogleich machte sie sich an die Arbeit, hängte Kleider in den Schrank und holte auch die mitgebrachten Farben und Leinwände aus dem Koffer. Vor etlichen Jahren hatte ihr Jacques eine Staffelei gekauft, die noch heute im Zimmer stand. Sie richtete ein Zeichenblatt her und kramte in ihren Aquarellfarben. Anfangs wusste sie nicht recht, was sie eigentlich malen wollte, aber bald war sie damit beschäftigt, die Farben der Nacht auf Papier zu bringen. Ein Bild aus Grau-, Schwarz- und Weißtönen nahm Gestalt an. Sie starrte auf das Blatt und überlegte, was daraus werden könnte. Schließlich merkte sie, dass sie zum Umfallen müde war. Sie musste dringend ins Bett und schlafen.
Aber als sie dann endlich im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen.
Ein Mann war umgebracht worden, war auf brutalste Weise ermordet worden.
Und sie war dabei gewesen.
Und ihre Handtasche lag noch immer in der Gruft.
Sie sandte ein Stoßgebet gen Himmel, dass die Polizei ihre Tasche finden möge.
Und nicht der Mörder.
Paris hatte sich verändert.
Selbstverständlich hatte sie schon früher erlebt, dass sich die Welt veränderte. Aber nicht so wie jetzt.
Sie hasste das Landleben, hatte es schon immer gehasst; die grellen Lichter und das geschäftige Treiben in der Stadt hingegen liebte sie. Allerdings musste sie zugeben, dass sich auch das Land weiterentwickelt hatte. Auch hier waren die Menschen zahlreich, es gab Geschäfte, die Leute saßen an Tischen am Straßenrand, aßen und tranken. Und manche dieser Leute …
… halb nackt. Oh, là, là! Wie man sich heutzutage kleidete …
Es gefiel ihr ausnehmend gut.
Eine berauschende Frische und Freiheit lag in der Luft. Dennoch sehnte sie sich nach der Stadt. Es dauerte nicht lange, bis sie feststellte, dass sie nur eines dieser modernen Gefährte herbeiwinken musste, um von der schäbigen kleinen Kirche in diesem Dorf wegzukommen. Und je länger sie in dem Gefährt saß, desto stärker fühlte sie sich.
Anfangs hatte sich der Fahrer wohl über ihr Gewand amüsiert, doch er schien bemerkt zu haben, dass der Schmuck echt war. Auch sie wusste, dass ihre Kleidung aus dem Rahmen fiel, doch sie überzeugte ihn rasch davon, dass sie zu einem Maskenball unterwegs war. Er war jung und sah gut aus.
Köstlich. Sie brachte ihn dazu, ihr etwas über die Stadt und das momentane Leben zu erzählen. Sie versuchte, alles möglichst gelassen aufzunehmen, aber trotzdem …
Was er ihr über die Revolution erzählte, schockierte sie regelrecht. Es war erstaunlich, beklagenswert: Sie hatten den König geköpft! Einen König! Sie konnte es kaum fassen. Der Taxifahrer wurde freilich etwas argwöhnisch und wollte kaum glauben, dass sie sich an einem Ort aufgehalten hatte, an dem sie nichts über die Vorkommnisse erfahren hatte, die in der französischen
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