Reich der Schatten
herzurichten. Tara bedankte sich, meinte jedoch, sie könne sich selbst einen Kaffee holen. Mit der Tasse in der Hand folgte sie Ann zu deren Wagen.
»Na, was meinst du – sollen wir heute Abend ausgehen?«, fragte Ann.
»Ich weiß nicht. Sollen wir?«
»Mir täte es bestimmt ganz gut.«
»Na gut«, erwiderte Tara bedächtig. »Wir sollten auf alle Fälle nichts allein unternehmen.«
»Im Übrigen glaube ich, dass der Kerl in den Katakomben hinter Grabschätzen her war. Er ist jedenfalls nicht irgendwelchen Frauen nachgestiegen oder so.«
Tara dachte kurz nach, dann nickte sie. »Ich fürchte, wir leben in einer Welt, in der Mord etwas ziemlich Alltägliches ist. Warum sollte jemand, der ein Grab ausgeraubt hat, hinter uns her sein?«
Doch auf einmal erstarrte sie, denn ihr war ihre Handtasche wieder eingefallen. Wo zum Teufel steckte sie? Wenn die Polizei sie gefunden hätte, wäre sie inzwischen bestimmt benachrichtigt worden.
Vielleicht hatte der Mörder sie gefunden?
Sie wurde aschfahl.
»Ich weiß nicht …«
»Keine Widerrede: Wir gehen aus. Ich bringe ein paar Freunde aus der Arbeit mit. In der Gruppe passiert uns bestimmt nichts.« Sie küsste Tara zum Abschied und setzte sich ins Auto.
Taras Blick schweifte über die Zufahrt. »Hey!«, rief sie.
»Was ist denn?«
»Gestern Nacht habe ich einen Wolf gesehen.«
»Hier gibt es keine Wölfe. Hier hat es nie welche gegeben.«
»Nein, ganz ehrlich – ich habe einen Wolf gesehen.«
»Das war bestimmt ein Hund.«
»Wenn ja, dann war der verdammt groß.«
»Wir haben hier sehr große Hunde. Vielleicht war es ein großer Schäferhund, vielleicht war es sogar Eleanora. Ich wollte sie gestern Nacht reinholen, aber offenbar war sie auf der Pirsch. Toller Wachhund!«
»Dennoch könnte ich schwören, dass es ein Wolf war.«
»In der Nachbarschaft lebt ein Paar, das zwei riesige Huskies hat. Vielleicht hast du einen von denen gesehen.«
»Vielleicht«, gab Tara nach.
»Du warst todmüde. Und wir waren alle erschüttert von der Nachricht über diesen grauenhaften Mord. Aber immerhin wird Jacques jetzt keinen Wert mehr darauf legen, dass wir in der Ruine rumkriechen.« Sie blies ihr eine Kusshand zu. »Ich ruf dich an und sag dir, was ich geplant habe.«
Tara winkte ihr zu und ging wieder ins Haus.
Katia sagte ihr, dass Jacques noch schlief.
Normalerweise hätte sie ihren ersten Morgen im Château damit verbracht, mit ihrem Großvater zu plaudern. Vielleicht hätte sie auch einen kleinen Spaziergang im Garten unternommen und sich danach auf einen Café au Lait und ein Croissant zu Jacques gesetzt. Aber sie wollte ihn nicht wecken, er brauchte seinen Schlaf. Nachdem sie gehört hatte, dass er noch ruhte, verspürte sie auf einmal den seltsamen Drang, das Haus zu verlassen …
… ein wenig allein zu sein.
… nachzudenken, die Umgebung zu betrachten und sich zu vergewissern, dass alles um sie herum völlig normal war.
Und sie wollte die Kirche sehen und erfahren, was die Polizei unternahm.
Da noch immer niemand angerufen hatte, musste sie sich jetzt ohnehin ein Herz fassen und der Polizei gestehen, dass sie ihre Handtasche in der Ruine verloren hatte – allerdings während der normalen Besichtigungszeit.
Sie war froh, dass sie noch ein paar Euro in ihrem Koffer hatte, so musste sie sich bei Katia oder Roland kein Geld für einen Kaffee borgen. Da sie sich gleich nach dem Aufstehen geduscht und angekleidet hatte, war sie ausgehbereit. Sie ging kurz nach ihrer Cousine aus dem Haus.
Sie parkte fast an derselben Stelle, an der sie gestern geparkt hatte.
Von ihrem Platz vor dem Café aus konnte sie erkennen, dass nach wie vor ein ziemlich großes Gebiet abgesperrt war. Die Kirchentür hatte man mit ein paar Brettern geflickt, die ganz und gar nicht die Patina des jahrhundertealten Holzes hatten, das in der letzten Nacht vor ihren Augen zertrümmert worden war. Die Kirche war anscheinend wieder geöffnet, doch der Zugang zu den Gängen, durch die man in die Ruine der alten Katakomben kam, war bestimmt noch blockiert.
Sie holte sich eine Tageszeitung und bestellte einen Café au Lait. Dann setzte sie ihre Sonnenbrille auf, weil sie nicht preisgeben wollte, dass ihr Blick immer wieder zur Kirche schweifte. Allerdings wäre das kaum aufgefallen; denn dem, was sie von den Gesprächen um sie herum mitbekam, entnahm sie, dass alle Welt über den gruseligen Mord sprach, und die meisten Gäste gafften ganz ungeniert immer wieder auf die Kirche.
Tara
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