Reich der Schatten
anderen.
Nein.
Er war anders.
Aber das kam ihr bestimmt nur so vor, weil sie ihn in einer Grabkammer kennengelernt hatte.
Er winkte dem Kellner, der nickte und kurz darauf mit zwei Tassen Kaffee zurückkam. Als er wieder fort war, beugte sich Brent Malone noch einmal zu ihr.
»Die Grabkammer, hieß es, war die Ruhestätte von Verdammten und teuflischen Geschöpfen.«
Tara lächelte nur. »Das ist doch Unsinn. Die alte Kirche wurde bestimmt erst entwidmet, nachdem die neue fertig war. Bis dahin war sie jedenfalls ein Gotteshaus. Wie können die Bösen aus früher Zeit dort bestattet worden sein?«
»Nein, es geht hier nicht um normale Bösewichte, sondern um wahrhaft Böse – und natürlich um solche, die den Hass des Königs auf sich gezogen hatten. Die Kirche ist schon vor vielen hundert Jahren versiegelt worden, doch es gab immer einen Zugang, den die Könige und ihre mächtigsten Gefolgsleute sowie die Kirchenfürsten kannten. Wer in dieser Katakombe bestattet werden sollte – jemand, der durch und durch böse war –, wurde heimlich dorthin geschafft und in einem versiegelten Sarg beigesetzt, bevorzugt im Morgengrauen und nicht mitten in der Nacht; denn im Finstern haben die Gottlosen angeblich die größte Macht.«
»Aha.« Seine Stimme klang wundervoll, wenn auch fast unheimlich – die Stimme eines geborenen Märchenerzählers. Sie nickte, als würde sie ihm jedes Wort abnehmen. »Na ja, solche Vorstellungen sind weitverbreitet. Die Pharaonen im alten Ägypten glaubten, sie hätten das ewige Leben, wenn sie einbalsamiert und mit den richtigen Riten bestattet würden, und ihre mumifizierten Leichen würden eines Tages wieder auferstehen und dann in Glanz und Freuden leben. Wenn man in Kairo ins Museum geht, kann man in vielen Räumen die einst großen Herrscher betrachten, wie sie dort in ihren gläsernen Vitrinen liegen und von den Touristen begafft werden, anstatt zu neuem Ruhm aufzuerstehen.«
»Mumien – tja, das ist etwas völlig anderes«, meinte er leicht ironisch und machte eine abwertende Geste. »Sie glauben also nicht an das Böse und an die Mächte der Finsternis, Miss Adair?«
»Das Böse? Oh Gott, ja, die Welt ist voll davon. Aber es laufen so viele Bösewichte herum, dass wir nicht in Märchen und Legenden nach ihnen suchen müssen.« Sie verzog das Gesicht, denn ihr fiel ein, dass sie ihrem Großvater ähnlich entschlossen und vernünftig begegnet war. Zu schade, dass Jacques nicht mit ihm sprechen konnte; bei Brent Malone müsste er nicht befürchten, wie ein verwirrter Greis zu klingen.
Bei diesem Gedanken erstarrte sie plötzlich. Sie wollte den Amerikaner nicht in die Nähe ihres Großvaters lassen, gleichzeitig aber verspürte sie seine seltsame Anziehungskraft. Fast als ob …
… als ob sie ihr Leben lang darauf gewartet hätte, ihn zu treffen.
Doch diese lächerliche Vorstellung tat sie sogleich ärgerlich ab. Er hatte eine spürbare und sehr männliche Ausstrahlung, und sie war seit Längerem allein, weil ihre letzte, an sich recht angenehme Beziehung einfach nicht das Richtige gewesen war. Künstler und Börsenmakler passten meist nicht so gut zusammen. Aber vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn sie sich nicht von Jacob getrennt hätte, sondern darauf bestanden hätte, dass er sie nach Paris begleitete? Wenn er jetzt hier säße, würde sie bestimmt nicht den seltsamen Wunsch verspüren, einem anderen Mann die Kleider vom Leib zu reißen.
Nein, das wollte sie doch gar nicht!
Oder etwa doch? Ja, sie hätte diesen Mann gern nackt gesehen. Sie hätte ihn gern neben sich gespürt. Sie hätte gern herausgefunden, ob es wirklich so aufregend war, von diesen Händen berührt zu werden.
Herr im Himmel, Tara, so nötig hast du es doch wahrhaftig nicht!, mahnte sie sich entschieden. An ihrem Tisch saß ein Mann, der ihr nicht nur wildfremd war, sondern obendrein auch noch höchst verdächtig.
Er hatte sich in der Katakombe aufgehalten, als jemand ermordet worden war. Allerdings musste sie zugeben: Abgesehen vom Mörder selbst war sie die einzige Person, die mit Bestimmtheit sagen konnte, dass Brent Malone kein Mörder war.
»Ich erkläre Ihnen doch nur, was es mit der Katakombe auf sich hat, Miss Adair.«
»Und außerdem sagen Sie mir, dass das Mordopfer in Ihrer Abwesenheit einen Sarg geöffnet hat, der wohl so etwas wie die Büchse der Pandora war – ein Sarg, der nicht die irdischen Reste eines Ketzers barg, sondern das Böse.«
»Das habe ich nie behauptet«,
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