Reich der Schatten
Geschehen dort unten also ganz beiläufig. Nach einem langen Flug, auf dem Sie sicher nicht viel geschlafen haben, hat Sie Ihr beiläufiges Interesse direkt zur Ausgrabungsstelle geführt.«
»Ich muss mich bei Ihnen doch nicht rechtfertigen. Dabei fällt mir ein: Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich es wissen möchte.«
»Das können Sie in der Zeitung lesen. Aber da wir uns jetzt gegenübersitzen, können Sie sich diese Mühe auch sparen. Ich heiße Brent Malone.«
»Meinen Namen kennen Sie ja schon, nachdem Sie meine Handtasche durchwühlt haben.«
»Man kann einen Fundgegenstand schlecht zurückgeben, wenn man nicht weiß, wie die Person heißt, der er gehört.«
»Na gut, jetzt haben Sie mir die Tasche zurückgegeben.«
Über diese Bemerkung verlor er kein Wort. »Tara Adair«, fuhr er fort. »Aber uns haben Sie sich unter einem völlig anderen Namen vorgestellt. Irgendwas französisch Klingendes, wenn ich mich recht entsinne. Sie haben behauptet, Sie hätten französische Verwandte.«
»Die habe ich auch«, entgegnete sie und ärgerte sich, weil sie klang, als ob sie sich verteidigen müsse.
»Das bezweifle ich gar nicht. Aber warum interessieren Sie sich so für diese Grabkammer?«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich fast nichts über diese Ausgrabung weiß, und das stimmt auch«, erwiderte sie.
Er fuhr mit dem Finger über den Rand seiner Kaffeetasse, dann schob er die Sonnenbrille hoch und betrachtete sie neugierig. Wieder bemerkte sie, dass seine Augen fast golden schimmerten, sehr ungewöhnlich. Es fiel ihr außerordentlich schwer, den Blick von ihm zu lösen.
»Warum erzählen Sie mir nicht von den Katakomben und der Grabkammer und wohinter Sie her waren und was so wichtig war, dass deshalb jemand umgebracht wurde?«
»Wie Sie wissen, handelt es sich um eine entweihte Kirchenkatakombe.«
»Das weiß ich.«
»Früher stand eine andere Kirche, Saint Michel, direkt darüber. Doch diese Kirche wurde abgerissen, und hundert Meter südlich davon errichtete man eine neue. Die Gänge waren viele Jahrhunderte lang zugeschüttet und dicht. Vor Kurzem musste im Untergeschoss der neuen Kirche etwas renoviert werden, und außerdem hatten einige Wände einen Wasserschaden. Bei den Renovierungsarbeiten entdeckte man einen der Gänge zur Katakombe der alten Kirche. Professor Dubois hatte schon jahrelang versucht, den Pfarrern von Saint Michel die Erlaubnis abzuschwatzen, sich zu den Ruinen vorzuarbeiten. Die guten Kirchenmänner wussten, dass Dubois recht wohlhabend ist und bestimmt dafür sorgen würde, dass etwas von seinem Geld seinen Weg in die Kirche finden würde, wenn man ihm die Oberaufsicht über die Ausgrabungsarbeiten übertrug. Und er scheint eine Koryphäe auf seinen Fachgebieten – Archäologie, Geschichte und vor allem Volkskunde – zu sein. Also bekam er schließlich die Erlaubnis.«
Tara ertappte sich dabei, fasziniert seiner Stimme zu lauschen, die anziehend und gleichzeitig sehr beruhigend wirkte. Sie hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und ihren Kaffee längst ausgetrunken.
Er lächelte. Offenbar hatte er bemerkt, dass sie ihn gebannt betrachtete. »Noch einen Café au Lait?«
»Wie bitte?«
»Einen Kaffee – wollen Sie noch einen? Ich würde gerne noch einen trinken.«
»Ach so – ja, warum nicht.« Sie war wirklich ziemlich unhöflich. Eilig setzte sie ein artiges »Dankeschön« hinzu.
Er lächelte wieder – volle Lippen, schöne Zähne. Am liebsten hätte sie sich selbst einen Tritt gegeben. Sie kaufte hier doch kein Pferd! Aber an diesem Mann schien tatsächlich alles außerordentlich wohlgestaltet.
Wenn sie ihn doch nur zu einer anderen Zeit getroffen hätte!
An einem anderen Ort und auf andere Weise.
Ja, dann hätte sie ihn ausgesprochen attraktiv gefunden. Selbst jetzt stellte sie fest, dass die Versuchung ziemlich groß war. Er strahlte etwas aus, das sie nicht eindeutig benennen konnte – Sexualität? Sinnlichkeit? Auf alle Fälle fühlte sie sich so stark zu ihm hingezogen, dass es fast schon lächerlich schien. Sie biss die Zähne zusammen. Aber warum sollte sie sich dagegen wehren? Er war in bester Verfassung und im richtigen Alter, und er wirkte sehr stark und männlich. Seine Anziehungskraft hatte rein gar nichts Geheimnisvolles.
Andererseits liefen eine ganze Menge attraktiver Männer herum, in ihrer Branche traf sie ständig welche. Er war einfach nur einer dieser vielen. Genau wie alle
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