Reich der Schatten
waren sie schon verschwunden.
Und noch immer spürte sie, wo er sie berührt hatte.
5
Der Schlaf brachte neue Freiheit.
Und auch die Träume brachten eine neue Freiheit. Wenn sie jetzt ruhte, konnte sie fliegen.
Sie konnte sich über die Dunkelheit erheben und im Dunst und Schatten fliegen. Es war alles eine Frage der Konzentration, und sie war froh über den Ruheplatz, den sie sich ausgesucht hatte, denn dort fühlte sie sich völlig sicher und konnte sich ganz auf ihre Aufgabe konzentrieren.
Freude durchzuckte sie, als sie die Anwesenheit eines Artgenossen spürte. Natürlich waren alle auf der Hut, und auch sie war vorsichtig. Doch dann nahm sie im Wind, der sie umwehte, während sie durch die Welt der Finsternis glitt, ein Flüstern wahr.
Bist du’s?
Die Luft und die Dunkelheit sprachen zu ihr. Und im Bewusstsein ihres Ruhmes und ihrer Macht antwortete sie: Jawohl! Ich bin wieder da.
Ich weiß. Ich wollte dich eigentlich empfangen. Aber jetzt musst du zu mir kommen.
Die Welt hat sich verändert.
Die Welt verändert sich ständig.
Es droht große Gefahr. Ich spüre sie.
Ja. Komm zu mir. Wir müssen jetzt zusammen sein. Wir können noch einmal ganz von vorne anfangen, eine neue Welt aufzubauen.
Ich komme natürlich.
Es gibt noch andere. Aber du musst auf der Hut sein.
Ach was. Ich bin mächtig. Und du doch auch.
Ja, aber trotzdem musst du dich vorsehen. Es gibt welche, die sich ebenfalls verändert haben. Welche, die Angst haben und verlangen, dass wir unsere Macht aufgeben.
Feiglinge.
Aber sie sind stark. Außerdem gibt es immer noch Mitglieder der Allianz.
Die muss man beseitigen, und zwar rasch. Ich habe keine Angst. Ich war immer die Stärkste.
Ach, meine Liebe – hast du etwa schon vergessen, dass ich dich befreit habe? Wir wissen, wo wir anfangen können, eine neue Welt zu schaffen, eine Welt, in der wir unseren Spaß haben können, in der wir uns lieben und sicher sein können. Ich habe alles sorgfältig geplant. Wir werden diejenigen um uns scharen, die sich nicht vor den Schwachen ducken. Komm zu mir, dann zeige ich dir, wie dieses Leben sein kann. Wenn du herausfindest, was ich in dieser Welt alles getan habe, wirst du dich königlich amüsieren.
Als Tara ins Château zurückkehrte, saß Jacques in seiner Bibliothek und arbeitete. Ein dickes, altes Buch lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch.
Er blickte hoch, als sie hereinkam.
Sie legte ihre Handtasche auf den Schreibtisch. Er runzelte fragend die Stirn.
»Der Mann, der an der Ausgrabung mitgearbeitet hat, brachte sie mir in das Café gegenüber der Kirche.«
Jacques wirkte erleichtert. »Und es ist noch alles drin?«
»Alles.«
»Alle Dokumente?«
»Jawohl. Mein Pass, mein Ausweis, Geld, Kreditkarten – alles noch da.«
»Gut.«
»Aber er kennt natürlich meinen Namen.«
»Und du, kennst du seinen?«
»Ja.«
»Und wie heißt er?«
»Brent Malone.«
Als sie den Namen nannte, beobachtete sie ihren Großvater genau. Er blickte auf sein Buch. Sie legte die Hände auf den Schreibtisch und starrte ihn an, bis er nicht anders konnte, als ihren Blick zu erwidern.
»Kennst du ihn?«, fragte sie.
»Nein, ich glaube nicht.«
»Seltsam. Auch er sprach von dem Bösen, das in der Grabkammer bestattet war. Und ich habe darauf fast dasselbe geantwortet, was ich auch dir schon gesagt habe.«
Jacques nickte und zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Er klopfte mit seiner Lesebrille auf das offene Buch. »Wenn du diesen Mann noch einmal siehst, kannst du ihn ja einladen. Ich würde mich gerne mal mit ihm unterhalten.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihn noch einmal sehe.«
»Ach, ich denke doch. Hast du eigentlich schon mal vom Sonnenkönig gehört? Da du in Amerika aufgewachsen bist, wirst du eher über Washington, Lincoln, Roosevelt und Kennedy Bescheid wissen. Aber hier in Frankreich lernen die Kinder alles über den Sonnenkönig.«
Sie lächelte. »Ich weiß auch einiges über den Sonnenkönig Ludwig XIV., der in Frankreich so lange herrschte wie sonst keiner. Er kam als Kind auf den Thron, und in seiner Jugend bestimmte Kardinal Richelieu seine Politik. Er wurde ein sehr mächtiger König, der das Weltliche und das Religiöse trefflich auszubalancieren verstand. Sein Vater hatte am Stadtrand von Paris eine kleine Jagdhütte, die Ludwig XIV. in einen großen Palast verwandeln ließ – Versailles.«
»Nachdem er sein Leben lang viele Geliebte gehabt hatte, beschloss er im Alter, seiner Frau treu
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