Reich der Schatten
seine Hand im Spiel hatte oder nicht, und obgleich bestimmt viele tausend Verfolgte unschuldig waren – es gab tatsächlich Menschen, die sich Hexenzirkeln anschlossen und glaubten, die Mächte der Finsternis herbeirufen und mit deren Hilfe anderen schaden zu können. Damals wurden in Frankreich und auch in vielen anderen Teilen Europas Menschen unter der Anklage der Hexerei hingerichtet. Aber Louisa hielt man nicht für so furchterregend, weil sie sich einem Hexenzirkel angeschlossen hatte. Ich habe dir ja gesagt, viele Menschen um sie herum sind gestorben. Bald nach ihrer Ankunft am Hof begannen Dutzende dahinzusiechen. Anfangs waren sie müde und geistesabwesend, dann kamen sie gar nicht mehr aus dem Bett und starben. Oft waren sie am Ende zu schwach, um noch einmal die Augen aufzumachen. Aber es gab auch andere, die …«
»Was war mit denen?«
»Sie sind einfach verschwunden. In jener Zeit passierten viele seltsame Morde in Paris.«
»Seltsame Morde?«
»Manchmal fand man Tote in den Straßen.«
»Seit jeher haben Menschen einander umgebracht – traurig, aber wahr«, gab Tara zu bedenken.
»Doch diese Leichen hatten alle etwas besonders Groteskes an sich.«
»Was denn?«
»Sie waren enthauptet.«
Tara erschauerte. Ihr Großvater sprach von der Vergangenheit. Doch der Arbeiter in der Grabkammer war ebenfalls geköpft worden. Eine brutale Art, jemanden umzubringen, egal, in welchem Jahrhundert der Mord stattfand.
»Frankreich hat den traurigen Ruf, das Land des Köpfens zu sein, Großpapa. Denk nur an die Guillotine.«
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie mit einem scheelen Blick. Jacques hatte sehr gern in Amerika gelebt; kaum einer liebte dieses Land so sehr wie er und trat so entschlossen dafür ein, egal, welche Partei gerade regierte. Aber er war in Frankreich zur Welt gekommen, und auf seine Heimat ließ er nichts kommen.
»Die Guillotine«, erwiderte er und schüttelte den Kopf, »wurde erfunden, um den Tod gnädiger zu machen. Leider wurde die Hinrichtung dadurch so einfach, dass ein rebellisches Volk sie zu häufig einsetzte. Doch das ist eine ganz andere Geschichte. Du achtest nicht genug auf das, was ich dir sagen will.«
»Und was willst du mir sagen, Großpapa?«
»Die Untaten der Gräfin de Montcrasset traten schließlich so klar zutage, dass dem König nichts übrig blieb, als anzuerkennen, dass seine Mätresse eine Mörderin war. Sie wurde ertappt, wie sie im Blut ihrer Opfer badete. Die Zofe, die sie dabei beobachtete, begann zu schreien; Männer der Kirche, die schon längst Verdacht geschöpft hatten, eilten mit Kreuzen und Weihwasser bewaffnet herbei. Die Gräfin wurde festgenommen, die kreischende Zofe lag halbtot in ihren Armen. Der König verurteilte sie und steckte sie ins Gefängnis, wo sie auf ihre Hinrichtung wartete. Personen, die sich dem Guten verschworen hatten, brachen gemeinsam mit einem Mann der Kirche in das Gefängnis ein und entdeckten, dass sie ihren Wärter beschwatzt hatte, sie freizulassen. Er lag tot auf dem Boden. Die Männer fielen über sie her und erdrosselten sie, und als sie sie tot wähnten, steckten sie sie in einen versiegelten Sarg. Dabei achteten sie sorgsam auf alle notwendigen Riten und Symbole, damit sie sich nie mehr aus ihrem Grab erheben konnte.«
Tara rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit Professor Dubois an der Ausgrabungsstelle. Er hatte ihr gesagt, dass die Grabkammer eine reiche Geschichte barg und dass auch verleumdete Adlige dort tief unten bestattet worden waren. Er sei auf der Suche nach einer ganz bestimmten Adligen, die man gewiss mit sagenhaften Schätzen beigesetzt hatte. Ihr Sarg sei wahrscheinlich so gut versiegelt, dass ihre Kleidung, ihre Schuhe und ihr Schmuck, ja alles, was sie an sich hatte, in einem Zustand sein müssten, der den Historikern unsagbar wertvolle Informationen liefern würde. Der Professor hatte sich über die historische Bedeutung dieser Frau gar nicht mehr beruhigen können.
Doch er hatte keinen Namen genannt.
»Großpapa, wenn diese Frau die Mätresse des Königs war und in all ihrem Prunk bestattet wurde, dann ist es doch umso einleuchtender, dass ein Verbrecher bereit wäre, zu morden, um den Leichnam zu rauben. Womöglich ist allein ihr Schmuck schon ein Vermögen wert. Es ist zwar schrecklich, aber doch naheliegend, dass ein gieriger Dieb die Grabungsarbeiten genau beobachtet und beschlossen hat, dort nach Feierabend einzubrechen. Doch
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