Reich der Schatten
widersprach er. »Noch einmal: Ich habe Ihnen nur etwas über die Geschichte dieses Ortes erzählt. Aber gewiss ist Ihnen auch klar, dass die Menschen in alter Zeit an die Kraft von Hexen glaubten und mit Dämonen und Teufeln Pakte schlossen. Was in Salem, einem Ort in Massachusetts, passiert ist, war ausgesprochen tragisch, aber es war nichts im Vergleich zu den Hinrichtungswellen in Europa, wo manchmal Tausende an einem Tag ihr Leben für ihren Glauben lassen mussten.«
Tara stöhnte. »Jetzt klingen Sie wieder, als wäre es lächerlich, zu glauben, dass es so etwas wie Hexen oder andere übernatürliche Wesen gibt – böse Geschöpfe, die in den Ruinen alter Kirchen vergraben wurden.«
»Der Punkt, Miss Adair, ist doch: Vor langer Zeit glaubten viele Vertreter der Kirche tatsächlich an das Böse, das sich ihrer Meinung nach in vielerlei Gestalt zeigte. Ängste, Gier, Politik oder Religion waren oft der Anlass, dass Tausende von Unschuldigen ihr Leben lassen mussten. Aber häufig waren die Ängste sehr real. Jemand, den alle fürchten, der als böse galt und keiner Glaubensgemeinschaft angehörte, wurde in ungeweihter Erde bestattet. Solche Leute wurden meist mit allen möglichen Riten und manchmal auch mit symbolischen Objekten beigesetzt, um zu verhindern, dass sie aus ihrem Grab stiegen und weitere Untaten vollbrachten. In der Vergangenheit gab es immer wieder sehr reale Ungeheuer, Hitler zum Beispiel, Leute, denen ein Menschenleben so wenig bedeutete, dass man sie mit Fug und Recht als böse bezeichnen kann. Es gab eine ganze Reihe von ihnen, sie mussten gar keine großen Herrscher sein, manchmal waren es auch Adlige. Die Gräfin Bathory zum Beispiel – niemand weiß, wie viele unschuldige junge Menschen sie ermordet hat, nur um ihre Blutgier und ihren Drang nach ewiger Jugend zu stillen. Freilich ist sie nur einer von vielen grausamen, boshaften – oder bösen, wenn Sie es so nennen wollen – Menschen, die es im Lauf der Zeit gegeben hat. Aber jetzt« – er zögerte, beugte sich näher zu ihr, und sie kam ihm sogar noch entgegen, gebannt von der Macht seiner Augen – »möchte ich Sie noch einmal warnen, und zwar mit allem Nachdruck: Halten Sie sich von der Kirche fern! Sagen Sie keinem, dass Sie in der Nähe des Tatorts waren. Legen Sie nie das Kreuz ab, das Sie jetzt tragen. Trauen Sie keinem, und halten Sie sich nie allein im Dunkeln auf. Ich habe Angst um Sie.«
»Sie haben Angst um mich. Soll ich Angst vor Ihnen haben?«
Obwohl sie überrascht war, wich sie nicht zurück und zuckte auch nicht zusammen, als er ihr mit dem Handrücken über die Wange streichelte. »Miss Adair, ich schwöre Ihnen: Es gibt nicht den geringsten Anlass, vor mir Angst zu haben.«
Nicht den geringsten Anlass? Sie kam sich beinahe wie ein hypnotisiertes Kaninchen vor. Seine Berührung löste eine Hitzewelle in ihr aus, die all ihre Sinne und ihre Seele in Wallung zu bringen schien.
Es gab genug Anlass, Angst zu haben, große Angst.
Sie sollte aufstehen und ihm sagen, dass er sich von ihr und ihrem Großvater fernzuhalten habe. Andererseits hatte sie Jacques ihm gegenüber nie erwähnt. Eigentlich gab es keinen Grund zu befürchten, dass dieser Fremde etwas über einen Mann wusste, der in einem hübschen alten Château lebte, auch wenn Jacques in der Blüte seiner Jahre eine ziemlich große Anhängerschaft um sich geschart hatte.
Sie konnte sich nicht dazu bringen, aufzustehen oder auch nur ein Stück von ihm abzurücken. Sie konnte nicht aufhören, in seine Augen zu starren. Sie wusste nicht, ob er sie noch immer berührte, denn ihr war nach wie vor ausgesprochen warm.
Sie konnte sich nicht von ihm losreißen.
Er aber konnte es.
Er erhob sich ganz plötzlich. »Entschuldigen Sie mich bitte, ich habe gerade ein paar Freunde entdeckt, mit denen ich verabredet bin. Ich würde mich freuen, Sie bald wieder zu treffen.«
Er schob seinen Stuhl zurück und ging. Sie sah, wie er ein Paar begrüßte, einen sehr großen, dunkelhaarigen Mann und eine schlanke, elegante blonde Frau. Die beiden sahen wie Touristen aus und trugen Freizeitkleidung: die Frau Jeans und eine Jeansjacke, der Mann ebenfalls Jeans und dazu eine Lederjacke. Ein attraktives, faszinierendes Paar – aber schließlich war Paris voll von attraktiven Menschen. Tara hatte den Eindruck, als ob das Paar nicht weiter auffallen wollte. Sie entfernten sich rasch aus ihrem Blickfeld.
Und bis Tara merkte, dass sie sich noch immer nicht vom Fleck gerührt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher