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Reich der Schatten

Reich der Schatten

Titel: Reich der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shannon Drake
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welcher Schrecken in diesem makabren Raum auf sie lauerte. Ja, sie musste einfach weiter.
    Sehr lange schritt sie voran, spürte die Kälte, spürte das Böse. Sie bewegte sich vorsichtig, ohne genau zu wissen, warum. Sie sah ihre nackten Füße Schritt um Schritt tun, doch unter den Füßen schien nichts zu sein. Sie spürte, wie die Brise ihr das seidene Nachthemd an den Leib presste, wie der Stoff durch den seltsamen Wind kalt wurde. Das Haar wehte ihr ums Gesicht, wirre Strähnen peitschten sie. Ihre Finger wurden kalt, ihre Hände verkrampften sich, doch sie nahm alles Mögliche in ihr und um sich herum wahr. Farbe … die Farbe ihres Nachthemds – es war blau, fast durchsichtig in dem fahlen Licht. Ihre Fußnägel … sie waren ockergelb lackiert.
    Und das Haus …
    Endlich blieb sie mitten im Wald stehen. Aus dem Haus drang das fahle Licht. Jetzt hatte sie auch wieder Boden unter den Füßen, Erde, Gras, Steine, ein Weg. Ein schmaler, von Unkraut überwucherter Pfad führte zu dem Haus.
    Als sie sich wieder vorwärtsbewegte, taten ihr die Füße weh. Sie schrie leise auf, als sie auf spitze Steine trat. Dann blieb sie wieder stehen und starrte auf eine dicke, schwere alte Tür.
    Ohne es recht zu bemerken ging sie weiter, und plötzlich stand sie direkt vor dem Haus. Sie war angekommen. Sie wusste nicht, ob sie freiwillig hierhergekommen war, aber jetzt war sie da.
    Der Türgriff fühlte sich kalt an. Er war aus Messing, rund und nicht bloß kalt, nein, eiskalt.
    Die Tür schien sich zu bewegen, nach innen, nach außen, als ob das Haus atmete.
    Flüstern …
    Komm rein, komm doch rein … Wir haben dich erwartet.
    In ihr schrie die Stimme der Vernunft auf, entschlossen, fest, laut: Nein, nein, nein! Genau das wollen sie doch, geh nicht hinein, geh nicht!
    Sie hörte nicht auf diese Stimme, denn es regte sich noch eine andere: Ich muss dort hinein. Ich muss herausfinden, was sich hinter dieser Tür verbirgt. Ich muss es Jacques zuliebe tun. Ich muss hinein, weil … weil die Wahrheit in diesem Haus zu finden ist … irgendwo in diesem Haus.
    Es ist schon in Ordnung, wenn ich hineingehe; es ist ja nur ein Traum.
    Ihre Finger schlossen sich um den Türknauf. Sie drehte ihn, stieß die Tür auf. Es knarzte und quietschte, als würden Fingernägel über eine Tafel kratzen. Sie hörte es ganz deutlich.
    Und dann …
    Kerzen. Oh Gott, überall brannten Kerzen. Kleine Lichtpunkte neben dem Feuer im Kamin, dessen Prasseln ebenso laut wirkte wie das Knarzen der Tür. Es war sehr warm hier, doch seltsamerweise schien ihr der Wind gefolgt zu sein – ihr war gleichzeitig heiß und kalt. Die Flammen flackerten blau, grün, gelb, golden, scharlachrot. Sie loderten hoch, tanzten einen verrückten Reigen, als wollten sie sich vor dem Wind verbeugen. Und auch die Kerzen ringsum begannen zu flackern, zu hüpfen, sich zu verbeugen, als tanzten auch sie in demselben geflüsterten Takt.
    Der Kamin war umrahmt von grotesken Fratzen; Fratzen krönten auch die Pfosten der Wendeltreppe an der gegenüberliegenden Seite des Raums. Der Bogen über dem langen Gang, der seitlich von dem Raum abging, war ebenfalls von Fratzen gesäumt. Dort schien das fahle Licht von Schatten verdüstert zu sein. Keine angenehmen Schatten, nicht die warmen Schatten sicheren Schlafs, sondern Schatten, die sich verformten, seltsame Gestalten annahmen.
    Sie ging unwillkürlich darauf zu. Unter dem Bogen blieb sie stehen und sah hoch. Ihr Blick fiel auf eine gehörnte Fratze, die aussah, als wolle sie ihren trägen Steingrenzen entkommen, Leben annehmen, zischeln, spucken, als sie darunter hindurchging. Sie wusste, die Fratze konnte ihr nichts anhaben, aber dennoch wagte sie es nicht, ihr zu nahe zu kommen. Aus dem Kamin schienen ähnliche Laute zu dringen, Fauchen, Spucken, Ächzen, ein raues, krächzendes Gelächter, das ganz plötzlich zu einem Flüstern erstarb, einem Laut, den auch der Wind oder der Tanz der Flammen verursacht haben könnte. Aber so war es nicht.
    Nein, so war es nicht.
    Ihr Blick fiel zum Boden. Auf den Holzdielen lagen gewebte Läufer, scharlachrot, schwarz, grau. Sie zeigten Kampfszenen: Tataren schlugen ihre Feinde in die Flucht, verbreiteten Tod und Verderben. Die Gestalten unter ihren Füßen schienen lebendig zu werden. Die Opfer kreischten, jammerten, flehten um ihr Leben.
    Sie lief über ein Meer von Blut.
    Sie wandte den Blick ab, der Läufer spielte doch nur mit ihr, versuchte, ihr Angst einzujagen. Sie musste nach vorne

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