Reich der Schatten
sprechen«, stieß er hervor.
»Zuerst müssen Sie mir sagen, worum es geht«, beharrte der Beamte, wenn auch in freundlichem Ton.
»Sie ist weg. Sie ist verschwunden. Ich habe die ganze Nacht vor ihrem Haus auf sie gewartet, weil ich ihr unbedingt sagen wollte, dass ich ihr Freund bleiben möchte, komme, was wolle. Aber sie ist nicht zurückgekehrt. Ich muss eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
»Na, na, Monsieur, immer mit der Ruhe«, meinte der Beamte.
Javet griff ein. »Schon in Ordnung, Clavet«, meinte er und wandte sich an den jungen Mann. »Ich bin Kommissar Henri Javet, der Revierleiter. Und ich höre mir gerne Ihre Geschichte an, aber alles der Reihe nach. Ihr Name, mein junger Freund?«
»Ich heiße Paul Beauvois und komme aus diesem Dorf, auch wenn ich etwas außerhalb auf dem Land lebe. Und ich … ich bin seit vielen Jahren sehr gut mit Yvette Miret befreundet.«
»Das Mädchen aus dem Café?«, fragte Javet, dem der Name bekannt vorkam. Sein Magen verkrampfte sich mit einer bösen Vorahnung. Er hatte das junge Mädchen oft gesehen, so wie alle anderen aus der Gegend. Leider hatte er auch schon mehrmals befürchtet, dass es mit ihr ein schlimmes Ende nehmen könnte; denn viel zu oft nutzte sie ihre Stellung in dem Café für ganz andere Geschäfte.
Sie war nie verhaftet worden, da sie einen regulären Job hatte, und auf Fragen, was sie mit den Gästen und Touristen denn sonst noch so treibe, hatte sie immer von den Freundschaften geschwärmt, die sie an ihrem Arbeitsplatz geschlossen habe. Man konnte ihr also nichts nachweisen, und außerdem hatte bislang noch niemand Anzeige gegen sie erstattet.
»Aha«, meinte Javet nur. Es wäre nichts Besonderes, wenn das Mädchen irgendwo anders übernachtet hätte. Sie wirkte zwar unschuldig, war aber alles andere als das. Das nagende Gefühl in seiner Magengrube verschwand jedoch nicht. »Sie ist also gestern Nacht nicht nach Hause gekommen, und Sie haben auf sie gewartet und machen sich jetzt Sorgen.«
Paul nickte. »Wir haben uns gestritten, schlimm gestritten. Aus Wut bin ich alleine nach Paris, aber dann … dann bekam ich plötzlich Angst. Ich verließ das Konzert, das wir ursprünglich gemeinsam hatten besuchen wollen, etwas früher und fuhr zu ihrem Haus. Ihre Eltern sind schon gestorben, sie lebt dort bei einer alten Tante. Die Alte kümmert sich zwar nicht viel um sie, aber sie ist keine Lügnerin. Sie war etwas ungehalten und hat mir erklärt, Yvette sei noch nicht zu Hause, und ich …« Er verstummte und sah bekümmert auf Javet, dann fuhr er fort: »Sie sagte, Yvette könne ganz andere Männer finden, richtige Männer. Sie müsse sich nicht auf einen Jungen wie mich einlassen, der ihr nichts bieten könne; schließlich habe die Welt viel mehr zu bieten.«
»Und dann?«, fragte Javet.
»Dann habe ich mich ins Auto gesetzt und gewartet. Sie kam nicht zurück.«
»Vielleicht ist es noch etwas früh, um die junge Dame als vermisst zu melden«, meinte Javet. Jedenfalls hoffte er das. Wahrscheinlich hatte das Mädchen einen interessanteren Mann gefunden, mit dem sie ihre Zeit verbringen wollte. Doch in Anbetracht der Umstände und bei all den Vermissten … und einer geköpften Leiche, die noch identifiziert werden musste …
»Aber Monsieur«, protestierte der junge Mann, den Tränen nahe, »ich fürchte …«
In dem Moment wurde die Tür aufgerissen, und der große, lockige François Vaille stürmte herein. Er musterte Paul. Javet überlegte, ob der Mann Paul vielleicht in die Wache gefolgt war.
»Mein Mädchen ist nicht in der Arbeit aufgekreuzt. Sie hätte die Frühschicht übernehmen sollen, und sie war stets da, wenn sie versprochen hatte, das Café zu öffnen. Und der Bursche hier …« – er spuckte verächtlich vor Paul aus –, »der Bursche hier kam gestern rein und hat getobt und geflucht und … und gedroht, dass es ihr noch leidtun würde.«
»Immer mit der Ruhe, François!«, mahnte Javet. »Jetzt beruhige dich erst mal, und dann besprechen wir alles der Reihe nach. Das Mädchen ist nicht zur Arbeit gekommen, und der junge Mann hier hat mir erklärt, dass sie gestern Nacht nicht heimgekommen ist. Er wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
Der Cafébesitzer, der im Lauf der Jahre etwas zugelegt hatte, aber noch immer ein kräftiger Mann war, wollte sich auf Paul stürzen. Rasch trat Javet vor den Jungen.
»François!«, warnte er.
François drohte Paul über Javets Schulter hinweg mit dem Finger. »Er will eine
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