Reich der Schatten
aus.
»Brent Malone!« Michel Martines Stimme klang hart und entschlossen. Er hatte auf den Straßen von Paris schon so manches erlebt.
Doch nichts hatte ihn auf den Anblick der Leiche in der Grabkammer vorbereitet, der kopflosen Leiche, die sie dort entdeckt hatten.
»Brent Malone! Sie sind verhaftet!«
Die zwei Männer waren stehen geblieben. Sie sahen erst sich und dann die Beamten an.
»Was wird mir vorgeworfen?«, fragte Malone.
Martine war unbehaglich zumute. Er konnte an den beiden zwar keine Waffen entdecken, doch sie trugen bis zum Boden reichende Mäntel und waren groß – sehr groß.
»Mord«, sagte Georges mit leicht zitternder Stimme, wie er zu seinem Verdruss feststellte. Nicht gut, dachte er, wir sind doch Polizisten. Die beiden Männer waren zwar ziemlich groß, aber sie wirkten nicht gefährlich und schienen auch keinen Widerstand leisten zu wollen.
»Javet weiß, dass ich keinen Mord begangen habe«, meinte Malone stirnrunzelnd.
»Es liegt jedenfalls ein Haftbefehl gegen Sie vor, Malone. Die Leichen häufen sich. Wenn Sie unschuldig sind, können Sie das ja auch im Gefängnis beweisen.«
Malone trat vor. »Meine Herren«, sagte er sanft, »es tut mir leid, aber ich kann es mir nicht leisten, heute Nacht von Ihnen verhaftet zu werden.«
Martine zog die Pistole und zielte auf Malones Herz. »Monsieur, Sie sind verhaftet wegen Mordes an …«
Plötzlich kam ihm kein Wort mehr über die Lippen. Er starrte an Malone vorbei auf den anderen Mann. Dann senkte er die Waffe. Ihm wurde schwindlig, er hatte Angst, gleich in Ohnmacht zu fallen.
Er taumelte rückwärts bis zum Streifenwagen. Kopfschüttelnd rieb er sich die Augen.
»Michel!«, rief Georges aufgebracht. »Was ist denn los?«
»Ich kann nichts mehr sehen.«
»Bleib ruhig, mach die Augen zu und atme tief durch!«
Doch das tat Michel bereits. Er blinzelte. Erleichtert stellte er fest, dass er wieder sehen konnte.
Er konnte zwar sehen …
… doch es gab nichts mehr zu sehen. Die Straße war leer.
Ringsum sah er nur Schatten, sonst nichts.
Aber plötzlich vernahm er einen Laut, der ihm durch Mark und Bein ging – einen tiefen, lang anhaltenden Schrei.
Ein Heulen …
Und plötzlich wurde ihm sehr kalt. Die Schatten schienen ihn einzukreisen, als wären sie lebendig.
»Los, ins Auto!«, rief er Georges zu. »Sieh zu, dass du ins Auto kommst!«
Als sie den hell erleuchteten, noch ziemlich bevölkerten Hauptplatz erreichten, kam er sich sehr töricht vor. Er sah auf seinen Partner. »Wir haben heute Nacht nichts gesehen, hast du mich verstanden?«
Georges starrte auf die Straße. »Nein, nichts. Rein gar nichts.«
Das Seltsame an dem Traum war: Sie wusste genau, dass sie schlief und in einen Albtraum geraten war. Nichts war echt.
Doch es fühlte sich verdammt real an.
Sie trat aus dem Finstern in einen hellen Raum, auch wenn er nicht richtig hell war. Das Dunkel, glaubte sie, war der sichere Bereich des Schlafes, in dem sich einzelne Traumsequenzen einfach aneinanderreihten, ganz normale Dinge: ein Spaziergang über die Felder, das Begehen von Straßen in New York; ganz alltägliche Tätigkeiten, etwa der Versuch, die Stimmung und das Gefühl einzufangen, das sie für ein Bild brauchte, und dabei verschwand dann manchmal die Farbe, sobald das Blatt Papier mit dem perfekten Farbton in Berührung kam. Die Dunkelheit war der Tiefschlaf, ein erholsamer Schlaf, ein sicherer Ort. Seltsam, dass das Schattenreich einen Raum des Friedens versprach, während das Licht …
Aber es war nicht das Licht der Sonne, nicht das Licht des Tages, nicht einmal das freundliche Licht einer Straßenlaterne.
Es war anders: gedämpftes, unheimliches, fahles Licht, in dem etwas lag, das alles, was es traf, verzerrte. Und es wehte ein Wind. Keine sanfte, frische Brise, die den Körper umwehte; kein Lufthauch, der das Haar anhob wie eine sachte Berührung. Dieser Wind hatte etwas Kaltes, aber nicht wie ein kalter Winterwind. Es war eine Kälte, die sich mit harten, knochigen Fingern auf sie zu legen schien, sich um ihr Herz, vielleicht sogar um ihre Seele legte.
Sie lief, sie trat aus der Sicherheit des Dunkels hinein in eine unbekannte Bedrohung, die sich in dem unheimlichen, bösen Licht zeigen würde. Sie wollte nicht weitergehen, sie versuchte, kehrtzumachen. Es war nicht, als würde das Böse an ihr zerren und sie zwingen, weiterzugehen. Nein, es war eher so, als ob sie wüsste, dass sie einfach weitermusste. Sie musste unbedingt herausfinden,
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