Reich der Schatten
ihre Cousine war schon zu Bett gegangen.
Sie schlich hinein.
Die Balkontüren standen offen, die Knoblauchknollen waren abgenommen worden und lagen auf einem Haufen in einer Ecke.
Tara zögerte. Sie versuchte, im Dunkeln ihre Cousine auszumachen. Ann schlief tatsächlich schon tief und fest.
Schließlich beschloss sie, dass es nichts schaden konnte, die Balkontüren zu schließen und den Knoblauch wieder davorzuhängen. Nachdem sie das erledigt hatte, schlich sie auf Zehenspitzen nach draußen.
Als Nächstes ging sie zu ihrem Großvater. Auch er lag schon im Bett und schien wie Ann bereits zu schlafen. Zumindest hatte er die Augen geschlossen. Tara dachte, wie alt er schon war, wie leidenschaftlich er am Leben hing, wie sehr er es lieb-te – und wie hartnäckig er an der Vorstellung festhielt, zu einer Allianz zu gehören, einer zu sein, der auf Seiten der Résistance für das Gute und gegen das Böse gekämpft hatte.
Sie drückte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn und entfernte sich leise, nachdem sie die Balkontüren und den Knoblauch davor überprüft hatte.
Auch sie war müde. Dennoch war sie unruhig. Ihre Gedanken rasten. Sie dachte an ihren Nachmittag, am liebsten hätte sie sich noch einmal an jeden Moment erinnert, aber sie wollte heute Abend nichts mehr analysieren und nicht weiter nachdenken. Sie holte ihren Block heraus und begann zu zeichnen.
Beunruhigende Bilder begannen sich auf dem Blatt zu formen.
Bilder …
Ein Friedhof, Grabsteine, offene Gräber. Sie legte das Blatt weg, machte sich an eine andere Zeichnung. Ein Wolf entstand, ein riesiges, knurrendes Tier mit glitzernden Zähnen …
Eine Fledermaus, die wie ein Schatten über den Wolf hinwegglitt.
Die Schatten legten sich auf eine Pariser Straße, es war der Weg, den sie und Ann zum La Guerre genommen hatten.
Sie hörte auf, zeichnete ein neues Bild.
Das Gesicht eines Mannes …
Sie runzelte die Stirn. Sie hatte jemanden gezeichnet, den sie irgendwo getroffen hatte. Doch sie konnte das unbewusst geschaffene Bild nicht zuordnen.
Sie sah auf die Uhr. Es war schon spät – Zeit zu duschen und zu schlafen. Ihre Anspannung schien sie zu warnen, dass ihr ein langer, anstrengender Tag bevorstand. Sie ging ins Bad.
An ihrer Kleidung hingen ein paar Strohhalme, und auch im Haar entdeckte sie vereinzelte Gräser. Selbst nach dem Duschen schien Brents Duft an ihr zu haften.
Im Bett musste sie daran denken, dass sie den Mann noch immer kaum kannte, und trotzdem wäre sie untröstlich gewesen, wenn er ebenso plötzlich aus ihrem Leben verschwunden wäre, wie er aufgetaucht war.
Nein, so schnell würde er nicht verschwinden. Er glaubte an Vampire, er glaubte, dass in Paris Vampire mordeten.
Sie wälzte sich noch lange in ihrem Bett herum, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Lucian hielt den Wagen an. »Hier in der Nähe ist es«, sagte er.
Brent stieg aus. »Sieht aus, als ob viele Häuser verlassen sind.«
»Dort!« Lucian deutete auf ein Straßenschild. »Das Schild habe ich gesehen, ganz deutlich.«
»Geh voran!«
Lucian ging los. Sie kamen an ein etwas zurückgesetztes Gebäude. Ein heruntergefallenes Schild wies es als Abbruchhaus aus.
Brent folgte Lucian, der über das Schild stieg. »Natürlich sind wir zu spät dran. Viel zu spät.«
Sie standen in der Diele. Früher war es ein prachtvolles Haus gewesen, das sah man an den kunstvoll geschnitzten Wandverkleidungen und den bunten Deckenfresken, die jetzt freilich verblasst waren und abblätterten.
Einen Augenblick lang verharrten sie reglos, lauschten, warteten. Dann nickte Brent Lucian zu und ging in den Raum zu seiner Linken.
Dort hatte vor Kurzem noch ein Feuer im Kamin gebrannt, das zeigte die frische Asche. Brent blieb kurz in der Mitte des Raumes stehen, dann trat er an das einst prächtige Sofa und beugte sich hinab.
Tropfen …
Möglicherweise Wein.
Nein – getrocknetes Blut, wie er feststellte, als er mit dem Finger darüberfuhr.
Hier lauerte Gefahr. Rasch stand er auf und ging mit langen Schritten durch die elegante Diele zur anderen Seite des Hauses. Dort stieß er auf Lucian, der mit dem Rücken zu ihm den Inhalt eines Schreibtischs inspizierte.
Brent wusste nicht genau, welche Gefahr er witterte. Er ging auf einen langen Vorhang zu.
Plötzlich gellte ein wütender Schrei durch die düstere Stille des Hauses.
Ein nacktes Geschöpf mit wirren Haaren und wilden Augen schoss fauchend wie ein Wirbelwind hinter dem Vorhang hervor. Brent war noch
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