Reich kann jeder
wohnt oben auf einem Berg, in einer Kopfsteinpflasterstraße in einem Haus, das man nur findet, wenn man der Auffahrt zum Schloss folgt, was uns aber nicht so gut gelungen ist, weil die ganze Schweiz eine einzige Einbahnstraße ist, die im Kreis verläuft.
»Guten Tag«, sagt Anne.
»Guten Tag«, sage ich.
Er nennt seinen Namen zur Begrüßung, was auch daran liegen könnte, dass wir vergessen haben, unseren zu sagen, er mustert mich, Anne. Er sieht kritisch aus, groß ist er, gerade, er hat dichtes, rotes Haar, Koteletten wie aus einer anderen Zeit und helle, blaue Augen.
Wir stehen in der Tür in seinem alten Haus, eine Ewigkeit und dann noch ein bisschen länger. Endlich scheint es, als entschließe er sich, und er sagt: »Dann kommen Sie mal rein.«
Und dann stehen wir in seinem Flur. Er mag uns nicht, doch, er mag uns, denke ich und versuche, normal zu sein.
Riesige Wandschränke hat er, weiß gestrichene Vertäfelungen, die allem etwas gediegen Frisches, etwas Unschuldiges geben, Adels-Erinnerungen, Fotos, da galoppiert einer auf einem Pferd, setzt an zum Sprung.
Auf der Holztafel im großen Esszimmer thront eine gigantische Vase, größer als zwei Kinder, mit lauter lilafarbenen, roten und gelben Lupinen. Es fehlt nur noch, dass sie Hallo zu unseren Sonnenblumen sagen und sich wegdrehen.
Knigge sieht aus, als warte er auf etwas, seine Freundin sei noch beim Segeln, sagt er, und dann zeigt er mir seinen Ausblick raus, runter auf den See, ein Wahnsinnsblick, den ich gar nicht richtig wahrnehme.
Wenn jetzt was schiefgeht, wird alles ein ganz großes Fiasko, denke ich, dann setzen wir uns in den Wohnsaal, kaum sitzen wir, verheddert sich Anne, die versucht, alles richtig zu machen, mit ihren Beinen, weiß gar nicht wohin damit auf seinem niedrigen Sofa. Sie rollt sie aus, fährt sie ein, kriegt einen Blick, der nach Strafe aussieht, aber bestimmt anders gemeint ist.
Der Freiherr steht auf, sagt nichts außer »Ein Wasser?«, bringt Wasser, setzt sich wieder hin, uns gegenüber, schlägt die Beine übereinander und gibt den Blick auf seine roten Socken frei.
»Mein Markenzeichen«, sagt er und streckt sie mir zur Bewunderung entgegen, sagt dann aber immer noch nicht viel.
»Ah, rote Socken«, murmele ich.
»Ich habe mich immer gefragt, wie der Adel lebt«, sage ich, weil ich denke, dass dies ein unverfänglicher Einstieg ins Gespräch wäre. Noch nicht übers Benehmen reden, erst mal was anderes.
»Wie soll er denn leben? Wie haben Sie sich das denn vorgestellt?«, fragt er. »Entspricht es Ihren Vorstellungen?« Ich werde rot.
Ich gucke mich um, sehe das geöffnete Fenster, das glänzende Eichenparkett, spüre den Wind, der hereinweht, aber er kühlt nicht.
»Ich dachte, der Adel lebt anders.«
»Der Adel sind auch nur Leute!«
Der Hochadel und der Hochrote. Alles läuft, wie ich das befürchtet hatte.
Ob es bald Essen gibt, es kann doch nicht mehr lange dauern. Wann gibt es Essen? Ich bin immer noch angespannt, habe Angst vor dem Essen, aber Hunger.
»Was ist eigentlich gutes Benehmen?«, frage ich und denke an meine Gabel- und Messerstellung, ein V, wenn ich noch weiteressen will, parallel, wenn ich satt bin, an die Serviette, einmal gefaltet, mit der Öffnung zum Shirt.
»Eine absolute Grundlage ist Aufmerksamkeit. Diese ganzen Dinge, Hummer knacken, Handkuss, ein kulturell gehobenes Gespräch, das sagt alles nichts über gutes Benehmen aus.« Dann macht er eine lange Pause, seine blauen Augen suchen die meinen. »Ich glaube, dass Menschen Aufmerksamkeit lernen können, wenn sie anfangen, sich dafür zu öffnen. Indem sie begreifen, dass es nicht nur um sie selbst geht, sondern um den ganzen Kreis, der beteiligt ist.«
Aufmerksamkeit! Der Kreis, der beteiligt ist. Meint er sich?
Ein Tag, bis morgen früh, denke ich nur. Keine Fehler machen, unterhaltsam sein, aufmerksam. Klug sein. Wenn wir hier raus sind, mache ich drei Kreuze, sage ich mir. Und: Wenn er uns rausschmeißt, erzähle ich überall, dass Knigge kein Benehmen hat.
»Manchmal denke ich, Reiche benehmen sich besser, sie benehmen sich anders als Arme«, sage ich und denke schon beim Sprechen: »Gib es mir! Jetzt kann er uns sagen, was er von Leuten wie uns hält.« Aber ich irre mich.
»Das gute Benehmen zeigt sich daran, wie die Leute mit dem Kellner umgehen. Es ist nie richtig, ein Arschloch zu sein. Nie. Die Grundlage guten Benehmens ist Aufmerksamkeit.«
Da kommt seine Freundin in den Saal, frisch wie der See, auf dem
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