Reich kann jeder
Kopfkissen riecht nach Sommer, nach Segeln. Nach Neuchâtel. Dann ist es leider schon Morgen.
»Schläft der Mann noch?«, höre ich um 8.15 Uhr eine Stimme auf dem Flur und hüpfe schnell raus, besorgt darüber, ob es mir gelingen kann, den guten Eindruck von gestern zu halten oder noch weiter auszubauen.
Unter der Dusche überlege ich mir, dass es bestimmt gut wäre, einen tollen Satz parat zu haben, der das Gute aus der Nacht in den Tag rettet, und entwickle den ersten Satz, den ich gleich raushauen werde, wenn ich guten Morgen sage:
»Ich habe es völlig unterschätzt!«, sage ich zu Knigge aus dem Flur heraus in die Küche.
Er, Teewasser kochend: »Was?«
Ich: »Eine Nacht Schlaf bei Ihnen ist ja Entspannungsurlaub für die Seele.«
So entspannend, dass ich gerne noch ein wenig länger entspannt hätte, denke ich.
Dann ist Frühstück, wird es plötzlich schrecklich gemütlich, so unfassbar morgensonnig in seiner Wohnung. Käse, Schinken, Marmelade, es gibt Kaffee, zum Kaffee gesellt sich Tee.
»Darf ich?«, fragt er nach dem Essen.
»Ja, natürlich.«
Da zündet er sich eine an, raucht, schlägt die Beine übereinander, nascht noch mal. Er ist super drauf heute Morgen, noch entspannter als gestern Abend. Er hat vergessen, dass wir gestern zu spät waren, er hat alles vergessen, alles, was wir vielleicht falsch gemacht haben.
»Es ist nie richtig, ein Arschloch zu sein«, denke ich und esse und bin ganz Ich, lässig und lustig, sitze gerade und stelle fest, dass ich eigentlich zu Hause genauso sitze und eigentlich gar nicht so schlecht bin.
Deutlich rede ich, vielleicht einen Tick deutlicher als sonst.
Es ist jetzt richtig vertraut. Ich, Anne und der hohe Adlige. Er holt Fotos raus, er zeigt uns seine Pinnwand in der Küche. Er very British in England, auf Hochzeiten. Seine Freunde.
Es ist, wie in einem Märchenbuch zu blättern und Geschichten der Von und Zus zu hören. Nur, dass sie alle echt sind. Und alle schön.
Er zeigt uns Partybilder. Guck mal hier, hier habe ich mit dem getrunken und hier mit dem. Tänze leben auf. Traditionen.
Das Knigge-Land. Der kniggische Hof, die kniggischen Felder, der kniggische Wald, der kniggische Friedhof. »Da werde ich auch mal liegen, wenn ich tot bin.«
Es macht mich traurig, das zu hören, aber er meint das nicht so.
Der See unten sieht aus, als hätte er sich nur für ihn da hingelegt, für ihn ganz allein. Ich stehe in seinem Esszimmer vor dem Fenster und genieße die Ruhe. Ich könnte jetzt eine alte Zugbrücke aufgehen hören, und dann würde jemand rufen: »Da ist er, der König!«
Aber es ruft niemand.
Unter mir liegt sie, die leuchtende, sandsteinfarbene Stadt mit roten Dächern und leeren, schmalen Straßen. Sie liegen nur da, der See, die Stadt, die Berge.
Ich denke, dass nicht viele Menschen in Neuchâtel wissen, dass Moritz Knigge hier wohnt. Wahrscheinlich haben die Schweizer sogar ihren eigenen Knigge. Oder sie sind so gut erzogen, dass sie so einen wie ihn nicht mehr brauchen. Ein Boot tutet, dann noch eins, am Hauptplatz ist Markt.
Ich denke heute Morgen, Moritz Freiherr Knigge, der Mann für das gute Benehmen, ist dem Himmel vielleicht näher als der Rest der Welt, der Rest der Schweiz, der Rest von Neuchâtel, in seiner herrschaftlichen Wohnung, die so groß und weit ist wie zwei, in der das alte Eichenparkett hallt, wenn er sich in sein Bürozimmer oder in seinen Speisesaal bewegt. Bis in die letzte Kammer gibt es Platz für Licht, viel Licht, mehr Licht, als man sich das vorstellen kann, der Blick aus seinem Fenster ist so schön, dass manche anfangen zu weinen. »An klaren Tagen kann man rechter Hand den Mont Blanc sehen«, sagt Knigge und steht plötzlich wieder neben mir.
»Ja, das ist schön.«
Ich denke an den einen Satz, den er gesagt hat. »Die Wahrscheinlichkeit, gut behandelt zu werden, ist groß, wenn man die anderen gut behandelt.« Deshalb müsse gutes Benehmen eine Haltung sein.
Ich begreife, dass ich es mag, wenn andere Menschen mir die Tür aufhalten und mich zuerst hineingehen lassen, dass gutes Benehmen nichts kostet und vielleicht sogar etwas bringt. Gutes Benehmen hebelt die Unterschiede nach oben aus und macht sie vergessen, denke ich. Wer die Höflichkeit anwendet, dem öffnet sie Türen.
»Darf ich Ihnen dies machen, möchten Sie das, Frau Nürnberger? Es wäre mir eine Ehre, Frau Nürnberger«, die ganzen nächsten Tage werde ich infiziert sein von netten Gesten. Dem Gefühl, dass es mir besser geht,
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