Reid 3 Ungezähmte Sehnsucht
passte definitiv besser zu ihr, als die Samariterin zu mimen. Kein Wunder, dass Rebecca argwöhnisch wurde, wenn ein offensichtlich missgünstiger Mensch ein unerwartetes Hilfsangebot machte!
Wie es schien, rechnete Elizabeth gar nicht mit einer Antwort. Stattdessen wählte sie in aller Seelenruhe ein Kostüm für sich selbst aus und hing es sich über den Arm, statt es auf dem Bett abzulegen und sich umzuziehen.
»Ich ziehe es vor, mir das Haar richten zu lassen. Das wiederum bedeutet, dass ich meine Gewänder durch den halben Palast schleppen muss«, erklärte sie seufzend. Auf dem Weg nach draußen schob sie noch hinterher: »Ich werde Euch einen Gehrock zukommen lassen. «
Was zu bezweifeln wäre, dachte Rebecca und ließ sich verzagt auf das Bett plumpsen. Sie war wieder allein. In ihren Augen war die Tatsache, dass Elizabeth noch einmal erwähnt hatte, wie lästig es war, sich der Dienste einer fremden Magd bedienen zu müssen, ein Garant dafür, dass sie ihr Wort wohl kaum halten würde. Wenig später wurde Rebecca jedoch eines Besseren belehrt. Erst wurde ein Gehrock gebracht, und keine fünf Minuten später lieferte ein Diener passende Beinkleider ab. Plötzlich schämte Rebecca sich dafür, an Elizabeth Marly gezweifelt zu haben.
Kapitel 4
Entzückt trat Rebecca vom Spiegel zurück, um ihr improvisiertes Kostüm besser betrachten zu können. Sie wünschte sich, das Gemach wäre mit einem größeren Spiegel als dem ausgestattet, den der Frisiertisch zu bieten hatte.
Zufrieden betrachtete sie die Beinkleider, die ihr dank ihrer Körpergröße wie angegossen passten. Das war auch der Grund, warum sie in letzter Minute doch entschieden hatte, es mit der Kostümierung zu probieren. Wäre der Gehrock weniger üppig gewesen, hätte man sie glatt für einen Freibeuter halten können. Die Kopfbedeckung mit ihrer langen Feder hätte auf jeden Fall zu beiden Kostümen gepasst.
Eigentlich wäre es Rebecca lieber gewesen, ihren ersten öffentlichen Auftritt am Hofe nicht in einem Männerkostüm bestreiten zu müssen, aber es tröstete sie, dass ihre Verkleidung durchaus passabel war und nicht so zusammengeschustert wirkte wie eingangs befürchtet. Zufrieden stellte sie sich mit dem Rücken zum Spiegel und drehte ihren Kopf so weit es ging zur Seite, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie sie von hinten aussah. So betrachtet, ging sie glatt als Mann durch. Jetzt, wo sie fertig kostümiert war, setzte allmählich die Aufregung ein. In wenigen Minuten würde sie ihren allerersten Ball am Hofe erleben, was ohne Elizabeths Hilfe allerdings nicht möglich gewesen wäre. Vielleicht hatte sie das Mädchen doch falsch eingeschätzt.
Rebecca stürzte aus dem Gemach, verlangsamte aber schon nach wenigen Metern ihre Schritt, als sie erkannte, wie lang der Korridor war, der sich vor ihr erstreckte. Erst jetzt dämmerte ihr, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wo der Ball eigentlich stattfand. Vermutlich in einem der Ballsäle, so viel stand fest. Als Rebecca entschied, den nächsten Bediensteten zu fragen, wo sie hinmusste, stieg ihre Laune.
»Kann es sein, dass Ihr Euch im Datum geirrt habt, alter Knabe? «, ertönte eine männliche Stimme hinter ihr. »Der Kostümball ist erst für morgen Abend angesetzt. « Der Mann warf ihr einen flüchtigen Blick zu, ehe er seinen Weg fortsetzte.
Rebecca blieb wie angewurzelt stehen. Er? Was machte er denn hier?
Sprachlos sah Rebecca dem Mann nach, wie seine langen Beine ihn federnden Schrittes von dannen trugen. Da er sie nur mit einem flüchtigen Blick gestreift hatte, war ihm nicht aufgefallen, dass sie gar kein Mann war. Im Gegensatz zu ihm hatte Rebecca ihn sofort erkannt; wie die beiden Male zuvor, als ihre Wege sich gekreuzt hatten. Und genau wie damals wurde ihr leicht schwindelig und ihr Herz machte einen Satz.
Insgeheim nannte Rebecca ihn den Engel. Für einen gewöhnlichen Mann war er viel zu gutaussehend: groß und schlank, langes ebenholzfarbenes Haar, das auf seinen Schultern wippte, wenn er lief. Rebecca hätte schwören können, dass er hellgraue Augen hatte, aber jetzt, wo sie ihm so nah wie noch nie zuvor gewesen war, wusste sie, dass sie eher von einem lieblichen Himmelblau waren. Sein flüchtiger Blick hatte allemal gereicht, um das zu erkennen.
Das erste Mal, als Rebecca ihn gesehen hatte, damals in Norford, hätte sie Stein und Bein geschworen, dass von ihm ein himmlischer Glanz ausging. Just aus diesem Grunde hatte sie ihn heimlich den Engel getauft.
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