Reid 3 Ungezähmte Sehnsucht
Ein Eindruck, der sich verstärkt hatte, als sie ihn das zweite Mal zu Gesicht bekommen hatte. Er war die Straße nach Norford Hall entlanggeritten, hatte aber aus unerfindlichen Gründen unter einem Baum angehalten - und zwar so, dass ein Strahl der untergehenden Sonne, der sich seinen Weg durch die belaubten Äste bahnte, seinen schwarzhaarigen Schopf so einrahmte, dass sie unweigerlich an einen Heiligenschein hatte denken müssen. Rebeccas Herz hatte wie wild zu pochen begonnen. Dem Umstand, dass ihre Mutter ebenfalls zugegen gewesen war, als sie ihm dieses zweite Mal fast begegnet wäre, hatte Rebecca zu verdanken, dass jemand ihr bestätigen konnte, dass sie sich das Engelhafte an ihm nicht einbildete.
»Der Mann, den du dort drüben siehst, ist übrigens mit deinem zukünftigen Gemahl verwandt«, hatte Lilly, der Rebeccas Reaktion nicht entgangen war, sie aufgeklärt. »Einer von Raphael Lockes zahlreichen Cousins, wenn ich mich nicht irre. Ich bin immer wieder fasziniert, wie attraktiv die Lockes und ihre Verwandten sind. «
Lilly hatte sich damals nichts sehnlicher gewünscht, als dass ihre Tochter eines Tages einen der Locke-Erben zum Manne nehmen würde - ein Wunsch, den Rebecca mit ihrer Mutter teilte. Als Rebecca Raphael Locke zum ersten Mal gesehen hatte - im Rahmen eines Gartenfestes, das ihre Mutter ausrichtete -, war sie seiner Attraktivität und seinem Charme erlegen. Als Lilly ihn als potenziellen Gemahl ins Gespräch gebracht hatte, hatte Rebecca ihr direkt zu verstehen gegeben, dass sie alles andere als abgeneigt war. Bedauerlicherweise lag das fünf Jahre zurück, und sie war damals viel zu jung für eine Ehe gewesen, während Raphael längst im heiratsfähigen Alter war.
Mit Sorge hatten Mutter und Tochter beobachtet, wie Raphael zu seiner ersten Saison nach London aufgebrochen war. Es hatte nicht lange gedauert, bis die ersten Gerüchte die Runde machten, er befände sich bereits auf Brautschau. Wenig später hieß es jedoch, unzählige Mütter von Debütantinnen wären fassungslos, weil er sich nicht für ihre Töchter interessierte. Kurz darauf später war zu hören, dass er sich von einer Affäre zur nächsten hangelte, um sich die vielen heiratswütigen Debütantinnen vom Hals zu halten. Doch sein Plan war zum Scheitern verurteilt. Statt ihn als unverbesserlichen Schürzenjäger abzustempeln und einen weiten Bogen um ihn zu machen, versuchten verzweifelte Mütter auch weiterhin, ihm ihre Töchter schmackhaft zu machen. Immerhin war er der Erbe des Herzogs von Norford, mit anderen Worten: ein ziemlich guter Fang. Als es ihm irgendwann zu bunt wurde, verließ er London, um die nächsten zweieinhalb Jahre durch Europa zu reisen.
Erleichtert hatten Rebecca und Lilly die Kunde seiner Abreise aus London aufgenommen, hatten sie doch dadurch ein wenig Zeit gewonnen.
Als Raphael jedoch endlich wieder nach Hause zurückgekehrt war, geschah etwas Unerwartetes. Wie aus heiterem Himmel hatte er Ophelia Reed, das hübscheste und heimtückischste Frauenzimmer ganz Londons, zu seiner Gemahlin gemacht. Welch eine herbe Enttäuschung! Rebecca war leer ausgegangen, war wieder dort, wo sie angefangen hatte.
Lilly hatte sich riesige Vorwürfe gemacht, das Thema Ehemann überhaupt angeschnitten zu haben, wo ihre Tochter doch noch viel zu jung dafür gewesen war. Ein Fehler, der ihr kein zweites Mal unterlief. Natürlich hatten Mutter und Tochter auch nach dem Debakel mit Raphael das Thema Heirat ab und an angeschnitten, ihre Gespräche aber bewusst allgemein gehalten und sich davor gehütet, konkrete Namen ins Spiel zu bringen.
Und jetzt war Raphaels Cousin wie aus dem Nichts an einem Ort aufgetaucht, an dem sie ihn nie und nimmer erwartet hätte. Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger abwegig erschien es ihr, ihm im Buckingham Palace über den Weg zu laufen. Immerhin war er ein Marquis. Zumindest nahm Rebecca das an. Hatte seine Mutter nicht einen Marquis geheiratet, der aber bereits das Zeitliche gesegnet hatte, woraufhin der Titel an seinen ältesten Sohn übergegangen war? Es war durchaus denkbar, dass er eine Einladung zu einem Fest im Palast erhalten hatte.
Als Rebeccas Benommenheit sich allmählich verflüchtigte, merkte sie, dass es ihre erste Begegnung mit dem Engel war, seitdem sie ihre Gefühle für seinen Cousin begraben hatte. Die beiden Male zuvor hatte sie ihr Interesse für ihn als unangebracht hinuntergeschluckt. Hinzu kam, dass ihn nur wenige in Norford kannten. Seine Mutter,
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