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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Pauly
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beflügelt ihn diese Aussicht, denn der Junge überwindet den nächsten halben Meter im Sprung, rutscht aber auf dem trockenen Sand, mit dem der Holzsteg überweht ist, aus und schlittert in Pauls Fersen.
    Dessen große Schritte werden jäh gestoppt. Paul hat Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Er rudert mit den Armen, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren, merkt aber bald, dass er keine Chance hat. Der Sturz ist nicht mehr abzuwenden. Auch diesmal wird er sich anschließend wundern, wie viele Gedanken in den paar Augenblicken möglich sind, in denen er erkennt, dass er fallen wird.
    Die Mutter des Jungen hat ihre Eile vergessen. »Haben Sie sich verletzt? Kann ich Ihnen helfen?«
    Paul winkt ab. Selbst wenn er Hilfe brauchen sollte – er will keine. Nichts ist schlimmer, als freundliche Menschen |72| neben sich zu haben, die hilflose Fragen stellen und ihn womöglich betasten, um sich der Unversehrtheit seiner Glieder zu vergewissern. Zum Glück erweist sich der Junge als ausgesprochen zimperlich, vielleicht will er aber auch nur von seiner Schuld ablenken. Jedenfalls heult er los und beschäftigt mit seinem Wehklagen seine Mutter so lange, bis Paul aufgestanden ist. Er schafft es sogar, seinen Unfallgegner mit gutem Beispiel zu demütigen.
    »Sieh mal, wie tapfer der Mann ist!«
    Paul ist wirklich tapfer. Im Nu steht er wieder auf seinen Beinen, hat seine Tasche aufgehoben, alles zurückgestopft, was herausgerutscht ist, und ein, zwei vorsichtige Hüpfer gemacht, die ihn vor jeglichem Übermut warnen. Bei den nächsten Schritten ist er auf der Hut. Wie soll er Sophia einholen, wenn sein linker Fuß die ganze Last zu tragen hat, weil sein rechter nur minimal belastet werden kann?
    »Ihr Handy!«, ruft die Frau und reicht ihm Uschis Stimme, die den Sturz, wie zu erwarten, ohne Schaden überstanden hat. Uschi ist eben unverwüstlich.
    »Paul! Paul!«, schreit es in seiner Hand. »Was ist passiert? Himmel, wenn man nicht ständig auf dich aufpasst!«
    Während Paul weiterhumpelt, nimmt er das Handy ans Ohr. Und dann sagt er etwas, was noch nie über seine Lippen gekommen ist. Nicht einmal, als er zu den Jugendlichen gehörte, die sich damit sowohl von ihrer Kindheit als auch von den Erwachsenen distanzieren wollten. Er sagt es, obwohl er Menschen verabscheut, die sich dermaßen gehen lassen. Er sagt es, obwohl es nicht zu ihm passt, und begreift in dieser Sekunde, dass es Augenblicke gibt, in denen so etwas Schreckliches |73| gesagt werden muss. Vielleicht hätte er es schon früher sagen sollen. Die Erleichterung, die er empfindet, ist größer, als er je für möglich gehalten hat. Nie hätte er gedacht, dass es genau richtig sein kann, etwas so Falsches zu sagen. Dass viele richtige Worte nicht so richtig sein können wie vier falsche.
    »Leck mich am Arsch!«
    Stille rauscht an sein Ohr. Im Nachhall dieser ungeheuerlichen vier Wörter scheint es nichts als Schweigen zu geben. Ist die Freiheit still? Ja, so muss es sein. Und bevor sie sich wieder Uschis Stimme und vielen unangenehmen Sätzen zugesellen kann, nimmt Paul das Handy und wirft es so hoch und so weit wie möglich in die Dünen. Er starrt die Stelle an, wo es aufgeschlagen ist, und würde die vier Worte am liebsten hinterher rufen. Aber so weit will er es dann doch nicht treiben.
     
    Elena würde es nicht glauben, wen ich treffe, als ich in List bei Gosch ankomme, noch bevor ich mir Matjes mit Bratkartoffeln und einer Extraportion Zwiebeln bestellt habe. Obwohl sie einen siebten Sinn für das hat, was sie immer so schnell die Liebe nennt. Natürlich kann von Liebe überhaupt keine Rede sein, aber als er plötzlich neben meinem Tisch steht und fragt, ob er sich zu mir setzen darf, bin ich mit einem Schlage ziemlich unruhig.
    »Natürlich gern«, sage ich und halte nach Johnny Gefron Ausschau. Zum Glück sehe ich ihn nicht. »Sie sind allein hier?«
    Raffael Sielmann nickt. »Tonia ist gerade auf Sylt angekommen. Ich glaube, sie hat mit ihrem Mann mal wieder |74| ein Hühnchen zu rupfen. Da habe ich mich aus dem Staube gemacht.«
    Er sieht mich an, als wolle er mir sagen, dass er sich niemals von einer Frau derart abhängig machen würde, wie Johnny Gefron es tun muss. Und ich blicke genauso selbstbewusst zurück, um ihm zu sagen, dass auch mir ein eigenständiges Leben über alles geht. Dass diese Lebensauffassung noch nicht alt ist, muss er ja nicht wissen.
    Elena würde jetzt einen handfesten Flirt mit ihm beginnen, aber ich kann das nicht.

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