Reif für die Insel
Wahrscheinlich war ich zu lange verheiratet, die Kunst des Flirtens ist mir abhanden gekommen. Ich weiß auch gar nicht, ob ich mit Raffael Sielmann flirten will. Er sieht gut aus, keine Frage, er ist sympathisch, und dass er mir gefallen will, ist nicht zu übersehen. Aber Elena und ich, wir haben ja in unserer Jugend noch gelernt, dass es dem Ansehen schadet, wenn man zur leichten Beute wird. Ich weiß, sie hat diese alten Hüte längst über Bord geworfen, aber ich bin altmodisch. Ich will mich erobern lassen. Wenn ich Raffael Sielmann der Mühe wert bin, werde ich die Möglichkeit ins Auge fassen, mit ihm einen Flirt zu beginnen, nur dann. Wenn ich Elena glauben soll, muss ich ja auch endlich am eigenen Leibe erfahren, was ein One-Night-Stand ist. Mal sehen, ob ich diese Erfahrung wirklich machen will. Sicher bin ich mir nicht. Und solange ich das nicht bin, rede ich mit Raffael Sielmann wie mit jedem anderen Mann, der mit mir zusammen einen Imbiss einnimmt.
Wir haben auf der Terrasse des Lister Fischhauses, wie die nördlichste Fischbude Deutschlands nun offiziell heißt, Platz genommen, unter großen Sonnenschirmen, an der |75| Peripherie eines schwachen, aber kühlen Lufthauchs. Die Sonne senkt sich bereits über die mehrstöckigen Mietshäuser auf der anderen Seite des Parkplatzes.
»Es könnte heute einen schönen Sonnenuntergang geben«, meint Raffael Sielmann. »Der Himmel ist wunderbar klar.«
Ich hätte ihm verraten können, dass ich fast jeden Abend zur Zeit des Sonnenuntergangs zum Wenningstedter Strand fahre. Elena würde es erwähnen, damit er weiß, wo er sie findet, wenn er mit ihr zusammen den Sonnenuntergang betrachten möchte. Ich kann so was nicht, er würde mich sofort durchschauen. Außerdem weiß ich gar nicht, ob ich mit Raffael Sielmann zusammen dem Sonnenuntergang zusehen will. Eigentlich genieße ich dann das Alleinsein. Meist stelle ich mich an einen der Stehtische vor Gosch am Kliff oder auf die Terrasse des Kliffkiekers und trinke einen Prossecco. Manchmal gehe ich auch mit dem Glas in der Hand die Treppe zum Strand hinab, wo es ruhiger ist. Dort sitzen die Leute im Sand, die die Sonne untergehen sehen wollen, und nicht die, die vor allem darüber reden möchten. Am schlimmsten sind jene, die in Westerland in der Nähe der Konzertmuschel sitzen und applaudieren, wenn die Sonne im Meer versunken ist.
Hatte ich nicht gesagt, ich will mit Raffael Sielmann reden wie mit jedem x-beliebigen Nachbarn? »Wird Tonia länger bleiben?«, frage ich und sehe zu, wie die Kellnerin zwei fette, glänzende Matjesfilets serviert. Den Champagner, den Raffael Sielmann vorschlägt, lehne ich nicht ab.
Er schüttelt den Kopf, als die Kellnerin gegangen ist.
|76| »Übermorgen fliegt sie wieder zurück.«
»Also ist sie nur gekommen, um mit ihrem Mann ein Hühnchen zu rupfen?«
Wieder geht dieses Lächeln über sein Gesicht, das einer aufmerksamen Frau die Illusion nehmen muss, dass er ein Mann fürs Leben ist, das ihn aber dennoch sehr anziehend macht.
Oder gerade deshalb? Er hat hellgraue Augen, die von dichten, dunklen Wimpern gerahmt werden, um die ihn manche Frau beneiden wird. Sein Gesicht ist hager, das Lächeln zeichnet viele senkrechte Linien hinein. »Sie ist wegen der Lesung gekommen. Sie haben sicherlich davon gehört, dass David Davidson morgen in Westerland sein neues Buch vorstellt?«
Ich sehe ihn überrascht an. »Sind Sie sicher? Davidson hat sich noch nie einem Publikum gestellt.«
Raffael Sielmann blickt auf seine Hände, während er antwortet: »Morgen wird er es tun. Tonia will natürlich dabei sein. Schließlich ist Davidson der erfolgreichste Autor des Gefron-Verlages.«
Ich greife in meine Badetasche und ziehe das Buch hervor, in dem ich am Strand gelesen habe. »Ich mag Davidson. Seine Sprache fesselt mich. Ich …« Wieder fällt mir nur diese eine Formulierung ein. »Ich fühle mich zu Hause, wenn ich Davidson lese.«
Raffael Sielmann blickt mich an, als hätte ich ihm ein Kompliment gemacht. »Eine schöne Erklärung. Davidson würde sich freuen, wenn er sie zu hören bekäme.«
»Warum glauben Sie das?«
|77| Er sieht erstaunt aus. »Jeder Schriftsteller freut sich, wenn das, was er schreibt, gern gelesen wird.«
»Ja, natürlich.«
Wir widmen uns jetzt den Matjesfilets und prosten uns zu, als die Kellnerin den Champagner serviert hat. Mir gefällt es, dass die Stille, die nun entsteht, uns nicht trennt. Wir genießen beide die Aussicht über den Hafen, auf die
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