Reif für die Insel
seinem Kopf nimmt ab, sein Herz schlägt nicht mehr zum Halse heraus, sein Atem geht wieder gleichmäßig. Vorsichtig zerteilt er das Dünengras vor seinem Gesicht. Gerade so weit, dass er Sophia sehen kann.
Sie hebt einen Ball auf, der in ihrer Nähe aufgeschlagen ist, und reicht ihn lächelnd einem Kind. Die schmale Lücke zwischen ihren Vorderzähnen gibt es nicht mehr. Was mag sich noch alles verändert haben? Ihre Haarfarbe ist intensiver geworden, vermutlich durch eine Tönung, die die grauen Strähnen verdecken soll. Ihre Bewegungen sind schwerfälliger geworden, ihre Figur ist fülliger, ihre Gesichtshaut schlaffer, die Augen sind kleiner und wissender. |66| Aber vieles ist auch geblieben. Der Griff an den Hinterkopf, das Lächeln mit weit geöffneten Lippen, das kleine Abwarten, bevor sie sich in Bewegung setzt, das Aufrichten des Oberkörpers während des ersten Schrittes.
Als sie ihm den Rücken zudreht, springt Paul erneut auf. Er muss sich anziehen und ihr folgen. So schnell wie möglich! Mit ihr gemeinsam auf dem Parkplatz ankommen! Warten, bis sie ihre Tasche im Kofferraum verstaut hat! Sie von hinten ansprechen, bevor sie sich hinters Steuer setzt! »Bist du es wirklich, Sophia? Was für ein Zufall!«
Ja, so wird es gehen. Anziehen, sofort anziehen! Von Sophia ist nur noch der Oberkörper zu sehen. Sie steigt bereits die Düne hinab. Schnell in die Hosen, ihr nie wieder nackt begegnen! Nie wieder! Die Haare? Verdammt, er hat keinen Spiegel dabei! Einen Kamm auch nicht. Wo ist die Unterhose? Steckt noch in den Shorts. Uschi hat sich immer darüber aufgeregt, dass er alle Kleidungsstücke auf einmal auszieht. Die Unterhose falsch herum? Egal! Sieht man ja nicht. Die Shorts auch? Verdammt, das sieht man. Also wieder herunter damit, gedreht, ein Bein hinein, auf die Tasche zuhüpfen, während das andere Bein in die Hose findet. Nein, es findet nicht, es bleibt am Hosensaum hängen. Paul fällt bäuchlings in den Sand. In dem Moment, in dem sein Kopf auf der Tasche aufschlägt, ertönt darin das Signal seines Handys.
Was ist das für ein Kerl, der mich da so auffällig mustert? Fährt in die Höhe, als hätte er Claudia Schiffer entdeckt! Unverschämt! Etwa in meinem Alter ist er. Einer, der sich zum ersten Mal in seinem Leben an den Nacktstrand traut? |67| Oder der es als junger Mann gewagt und die Entwicklung der folgenden Jahre nicht mitgemacht hat? In den sechziger Jahren gab es sie oft, diese Männer, die sich bäuchlings auf ihr Liegetuch legten, ein Buch vor sich im Sand, eine Sonnenbrille auf den Augen, über die sie hinwegblinzelten. Kaum zu glauben, dass man in der heutigen Zeit am Nacktstrand von neugierigen Blicken belästigt wird! Wie er jetzt das Dünengras zerteilt, um mich zu beobachten! Meint der wirklich, ich merke das nicht? Unangenehm! Anscheinend geht es so einer Frau, die ohne männliche Begleitung am Nacktstrand auftaucht. Ich hatte ja vorher keine Ahnung, wie sicher ich mich fühlen konnte an Georgs Seite. Dass er mir Schutz bot vor neugierigen Blicken, war mir nie klar.
Also hoch den Slip und das T-Shirt über den Kopf! Welche Erleichterung ein bisschen Kleidung bieten kann! Nun habe ich auch die Shorts an, und es geht mir besser. Warum guckt der Kerl immer noch? Hat er noch nie eine leicht bekleidete Frau von Mitte fünfzig gesehen? Besser, ich drehe ihm den Rücken zu, während ich den BH anziehe. Nein, den Gefallen, mein T-Shirt anzuheben, tue ich ihm nicht. Ich habe in meinem Leben so oft im Rücken meinen BH zugehakt, das kann ich blind.
Ups, ein Ball! Beinahe wäre er in meine Tasche gehüpft. Süß, der Kleine, der ein paar Meter vor mir steht und anscheinend Angst hat, mich um den Ball zu bitten. Er dreht verlegen seinen Zipfel zwischen den Fingern, dann springt er unbekümmert zurück, den Ball über dem Kopf wie eine Trophäe. Man könnte glatt neidisch werden, wenn man sieht, wie unbekümmert Kinder mit ihrer Nacktheit umgehen. Ob |68| dieser Junge auch mal auf dem Bauch liegen wird, um heimlich eine Frau zu beobachten, die sich anzieht?
Fertig! Nichts wie weg. Der Kerl erhebt sich nun tatsächlich ebenfalls. Will er was von mir? Das kann doch nicht wahr sein! Männer in meinem Alter laufen jungen Mädchen nach, aber nicht einer gleichaltrigen Frau!
Elena schimpft immer am lautesten auf die Männer in der Midlife-Crisis, denen der Anblick eines jungen Mädchens den Verstand vernebelt. Ich hoffe, der Typ deutet meinen Blick nicht falsch. Dass er bloß nicht
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