Reif für die Insel
Essen und als gäbe sie den Kalorien, die sie zu sich nimmt, keine Gelegenheit, sich in Fett zu verwandeln. Tonia ist ständig in Bewegung, immer mit irgendeiner Arbeit beschäftigt, unfähig zur Muße, immerfort in Eile. Wenn sie eine Arbeit zur Seite legt, dann nur, um ihrem Mann vorzuhalten, was er nicht erledigt hat, was sie statt seiner erledigt hat, dass sie tagtäglich doppelt und dreimal so viel erledigt wie er und sich fragt, wofür sie eigentlich sein horrendes Gehalt zahlt.
Jetzt hat sie sich die Beete vorgenommen, die sie vor Jahren in der Nähe des Zauns angelegt hat, der unsere Grundstücke trennt. Ich höre es knacken und rascheln, die niedrigen Büsche bewegen sich, manchmal ist eine Hand zu sehen, gelegentlich Tonias Haarschopf oder ihr Rücken. Unkrautstängel fliegen in den gelben Eimer, der neben ihr steht, häufig auch über ihn hinaus. Im Hintergrund sehe |81| ich Johnny Gefron durch den Garten wandern, trockene Blätter abzupfen, in die Bäume blicken und die zu erwartende Apfelernte schätzen. So wird er später sagen können, dass er sich an der Gartenarbeit beteiligt hat.
Raffael Sielmann betritt die Terrasse, ein Laptop unter dem Arm. Er sieht sich um, zögert und geht dann zu einer zierlichen weißen Sitzgruppe, die Tonia im Schatten eines alten Baumes aufgestellt hat. Er klappt seinen Laptop auf, ohne sich umzusehen. Wahrscheinlich hofft er, unbehelligt zu bleiben, wenn er seine Gastgeber ebenfalls nicht behelligt. Schade! Ein Blick von ihm hätte mir gefallen, ein kleines Zwinkern, das nur ich sehen kann, ein flaches Geheimnis, das zwischen Zeigefinger und Daumen passt und sich von den Fingerkuppen zerdrücken lassen kann.
Tonias Kopf erscheint über den Büschen. Sie streicht mit dem schmutzigen Handrücken die Haarsträhne zur Seite, die über ihr rechtes Auge fällt, und hinterlässt eine dunkle Spur auf ihrer Stirn. Es gibt vieles, was ich an Tonias Gefron bewundere, ihre Kraft, ihr Durchsetzungsvermögen, ihren eisernen Willen, ihren beruflichen Erfolg und die Gelassenheit, mit der sie ihren Mann erträgt. Am meisten aber bewundere ich die Geduld mit ihrer Haarsträhne. Tonia trägt ihr leicht gewelltes Haar kinnlang und seitlich gescheitelt. Auf der linken Seite ihres Kopfes ist alles in praktischer Ordnung, aber auf der rechten gibt es diese Haarsträhne, die zu kurz ist, um hinters Ohr gestrichen zu werden, und zu lang, um sich um Tonias Gesicht zu schmiegen. Sie fällt über ihr rechtes Auge, hundertmal, tausendmal am Tage, und wird hundert- oder tausendmal zurückgestrichen. |82| Trotzdem verbringt Tonia Gefron den größten Teil des Tages als Einäugige.
Ich kenne sie nicht besonders gut, habe noch nie ein längeres Gespräch mit ihr geführt. Wir grüßen uns, wenn wir uns sehen, rufen uns über den Gartenzaun etwas Freundliches zu und würden beide erklären, wenn wir gefragt würden, dass wir uns gut verstehen. Dass diese Behauptung nie überprüft werden konnte, liegt daran, dass Tonia immer in Eile ist, dass ihre Haarsträhne dafür sorgt, dass sie mich nicht sieht und ich nichts tue, um auf mich aufmerksam zu machen. Wir sind für ein paar Wochen des Jahres Nachbarn, das genügt.
»War das eine Hitze heute!«, ruft sie herüber und verschwindet schon wieder kopfüber zwischen den Büschen. Ihr knöcherner Hintern wippt über den Zweigen in dem Rhythmus, in dem ihre Hände in der Erde wühlen.
Es ist das erste Mal, dass ich auf den Zaun zugehe, ohne dass die Höflichkeit es erfordert. »Hallo, Tonia! Warum gönnen Sie sich nicht ein paar schöne Stunden im Schatten? Sie müssen doch auch mal abschalten.«
Tonia Gefron fährt in die Höhe, als hätte ich sie beleidigt. Empört sieht sie mich mit dem linken Auge an. »Abschalten? Ich soll mich in einen Liegestuhl flegeln und dem Unkraut dabei zusehen, wie es sich hier ausbreitet?«
»Aber Sie haben doch als Verlegerin genug zu tun. Um den Garten könnte sich auch …«
»… mein Mann kümmern?« Tonias Gummihandschuhe sind voller Gartenerde, deswegen versucht sie es mit einer neuen Variante: Sie schiebt die Unterlippe vor und pustet |83| ihre Haarsträhne in die Höhe. Der Erfolg ist mäßig. Ein paar Sekunden hat sie zwar freie Sicht, dann fällt die Strähne schon über ihr rechtes Auge zurück. »Bis der auf die Idee kommt, etwas zu tun, habe ich es längst erledigt.«
Das glaube ich ihr aufs Wort. Das Tempo, mit dem sie zwischen den Büschen herumhackt, ist wirklich bemerkenswert. Wieder sehe ich nur ihren
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