Reif für die Insel
Alte Bootshalle, über den Platz, auf dem von der Hitze ermattete Touristen sitzen und schlendern, genießen unser Lächeln und die Blicke, mit denen wir uns betrachten. Ein Gespräch drückt oft weniger aus als eine Zeit des Schweigens. Ich weiß, dass ich mit einem Menschen gut reden kann, wenn ich mit ihm auch gut schweigen kann.
Raffael Sielmanns Stimme ist leise, als täte es ihm leid, unser Schweigen zu brechen. »Werden Sie auch morgen Abend kommen?«
»Wenn es noch Karten gibt.«
Er zuckt die Achseln. »Wenn nicht, werde ich Johnny fragen. Er wird dafür sorgen können, dass Sie auch ohne Eintrittskarte eingelassen werden.« Wieder schenkt er mir dieses längs gestreifte Lächeln, und ich freue mich darüber, dass alle Linien in seinem Gesicht nach oben führen. Sein Lächeln strahlt, es ist jungenhaft und vergnügt, es hat nichts Gönnerhaftes, nichts Stolzes. Es zeigt zur Sonne. »Ich habe ja auch keine Eintrittskarte.«
»Sie sind Autor des Gefron-Verlages«, erinnere ich ihn. »Das ist etwas anderes. Morgen früh werde ich mir übrigens ein Buch von Ihnen kaufen.«
»Die Badebuchhandlung auf der Friedrichstraße führt all |78| meine Bücher«, sagt Raffael Sielmann. »Dort bekommen Sie auch die Eintrittskarten für die Davidson-Lesung. Die Badebuchhandlung ist der Veranstalter der Lesung.«
Diese Information verblüfft mich. »So eine kleine Buchhandlung?«
Sielmann zuckt die Achseln. »Davidson wollte es so. Er war es auch, der unbedingt auf Sylt lesen wollte. Wenn schon, dann auf Sylt, hat er gesagt.«
»Woher wissen Sie das?«
»Tonia hat es mir erzählt. Er hat anscheinend schöne Erinnerungen an Sylt.«
»Dann kennen Sie sicherlich auch Davidsons richtigen Namen?«
Raffael Sielmann nickt, und jetzt gesellt sich den Linien in seinem Gesicht ein spitzbübischer Ausdruck hinzu. Er wird mir immer sympathischer. »Aber ich werde ihn nicht verraten. Tonia würde mich umbringen. Bis morgen Abend sind meine Lippen versiegelt.«
»Waren Sie früher schon mal auf Sylt?«
Jetzt fliegt noch ein Schatten der Sentimentalität über seine Miene. Oh, ich glaube, ich bin auf dem besten Wege, mich zu verlieben!
»Aber ja! Ich habe als Kind und als Jugendlicher alle Ferien hier verbracht. Meine Patentante lebte hier. Als sie starb, habe ich es nicht über mich gebracht, noch einmal nach Sylt zu fahren.«
»Jetzt haben Sie es über sich gebracht.«
Raffael Sielmann schneidet ein besonders großes Stück von dem Matjesfilet ab und schiebt es sich in den Mund. Er |79| hat seine liebe Mühe mit dem fetten Bissen, reden kann er erst, als er ihn bewältigt hat.
Aber ich kann mir denken, was er mir sagen will. »Irgendwann muss man sich gegen die Erinnerungen durchsetzen, stimmt’s?«
Nun kann er antworten, währenddessen wickelt er einen Zwiebelring um seine Gabel. »Außerdem war ich reif für die Insel. Als Johnny und Tonia mir anboten, in ihrem Haus zu arbeiten, konnte ich nicht widerstehen.«
Der Parkplatz liegt still und ruhig da. Es steht nur ein Dutzend Autos dort. Zwei auf der einen, alle anderen auf der gegenüberliegenden Seite, ein unsymmetrisches, ein hässliches Bild. Über ihnen flirrt die Hitze, eine hauchdünne Sandschicht klebt auf den Kühlerhauben, die Scheiben werden blind sein, wenn die Fahrzeugbesitzer vom Strand zurückkehren.
Pauls Augen wandern von einem Wagen zum anderen, aber die Stille, die über dem Parkplatz steht, ist Beweis genug. Er ist zu spät gekommen. Wie vor vierzig Jahren! Als er zurückkehrte, wurde Werner gerade in den Krankenwagen geschoben. Er war ohne Bewusstsein, zu lange hatte er gegen den Krampf angeschrien, war untergegangen, wieder aufgetaucht, erneut untergegangen … Rolf hatte ihn im allerletzten Moment zu packen bekommen und an Land ziehen können.
Was geschehen war, erfuhr Paul erst später. Mit ihm redete ja niemand mehr. Die anderen bauten einen riesigen Wall der Schuld vor ihm auf, über den er nicht hinwegblicken konnte.
|80| »Nichts gemerkt? Dass ich nicht lache!«
»Feige bist du! Feige!«
»Wie kann man einen Kumpel nur so hängen lassen!«
Lediglich Uschi griff nach seiner Hand und hielt sie fest. Sie blieb an seiner Seite, wenn sie ihn auch nicht verteidigte. Paul war nach vierzig Jahren noch immer nicht den Verdacht los, dass sie ihn genauso für schuldig hielt wie die anderen, dass sie nur bereit war, ihm seine Schuld zu vergeben.
5.
Tonia Gefron ist eine kleine, drahtige Person. Sie sieht aus, als fände sie selten Zeit zum
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